wolken hinterm rollo Jayne-Ann Igel

 

die fichte der brosamen unserer existenz Stabilität strahlen die Lyrikschöpfungen von Jayne-Ann Igel in ihrem neuen Band bei Gutleut aus. wolken hinterm rollo evoziert im Titel bereits alles. Ein auf den ersten Blick einfaches Bild entfaltet sich mehr und mehr – Sprache subtil zur Verschiebung genutzt. Ein Blicktagebuch, ein Gehen durch Verlust im Landlug, „hie und da herdentiere drin, oder drauf und dran, wo sich / ketten von bäumen ziehen, schmale straßen entlang“, schutzgesänge als wort-tonlicher Schutzraum zwischen Blattrand.

Das rhythmisch leicht schwingende, nie überstürzte Dichten von Igel ist ein selten beruhigendes Lesen, gleichwohl die Veränderungen, die jene poetische Stimme bezeugt, hineinschneiden: „wolken geben sich bedeutungsschwer, bringen jedoch / nichts außer ein wenig rauchigen schatten, material für / die staublunge, von den gepflügten feldern“. Immer wieder Nachtwachenprotokolle, der Kaffee vor dem Morgen; als ein überaus inspirierter (inspirierender) Text mag hier Fasson gelten, eine Art Bildabrechnung, „zögernd huf für huf nach drei“. Die Fotoarbeiten, Trennungen der Abschnitte im Buch, passen in die aufgestellten Themenfelder, Geister, Reisen, „die hebel der kindheit“. Oft streuen sich Quellen- oder Ursprungsangaben hinein, befreundete Verse, Orte außerhalb der hier berufenen Orte. Die Texte, oder Textfragmente, datiert, wirken meist zu einem Atem- / Lesezug durchgeschrieben. Wirkliche Zäsuren bleiben außen, eher fehlt ein Wort, Satz im Satz, ein Satzfragment, weicher Umbruch, „ließ den geländern ihren / lauf, ohnehin haltlos [...]“

Mit diesem neuen Band wolken hinterm rollo unterstreicht Jayne-Ann Igels Lyrik ihren einigermaßen singulären Status, der bei wie immer ausgesprochen kooperativer Gestaltung des Gutleut Verlag in visuellem Auftritt zu einer einladenden Zusammenarbeit geworden ist. Die Bild-Bandreihe schreibt sich fort.

Jayne-Ann Igel wolken hinterm rollo, gutleut, 2024 978-3948107376 92 Seiten

 

 

warte ich muss das teilen Aslı Özdemir

 

unaufhörlicher loop der trauer „ein schmunzeln / in meiner maske“ mit Zeilen wie dieser ist Aslı Özdemirs warte ich muss das teilen angefüllt, ein 253 Seiten langes was? Ein Gedicht, ein Log, ein analoges Digitalding aus Posts mit Umbruch, vielleicht zu Beginn ein klassisches Tagebuch eines Nikotinentzugs, in das sich andere Dinge, bedrohliche wie vage unverortbare mitten in COVIDzeit hineindrängen, es zu textlichen Reaktionen, Beulungen, auch Positionierungen, gegen Ende mitunter pure Wut bringen. Bei Rohstoff Literatur dieser Tage erschienen, wirkt es zwar weniger bearbeitet als in Schreibwucht belassen, dabei dennoch streng, formal betrachtet. Jede Zeile ist Marker einer Sinneinheit, oder ein Begriffspunkt, mit „hallo helvetica“ gibt es einen unverändert übernommenen Schriftwechsel, vielleicht ist dieser Band wirklich ein Rohstoff im besten Verlagssinn: „immer dieses / vage / ungenaue / das mag ich“.

Özdemirs Text wird heimgesucht von verschiedenen Bewegungen, dem Virus, dem Schlussgemachtwerden von einer Person f, Versagensängsten in einer macht-mythifizierten Umgebung, dem Aufschieben: „magst du / meine / kunst nicht? / mag sie / bitte“, der ständigen Selbstreflektion, einer leicht eskapistischen Perspektive auf die Zumutungen der Situation: „die sehnsucht / nach einer zeit / in der ich nicht gelebt habe / übersteigt meine / vernunft“. Das Schreiben wird zu einem Ritus. Vielleicht ist es als Ableitung der Zeit zu sehen. Das Buch ist ein Art von Ergebnis, es empowert ein Selbst & wird damit auch zu einem Versuch für andere. Natürlich stellt sich mit einer Veröffentlichung die Frage, für wen dieser Text intendiert ist. Je mehr Affekt sich einfindet, umso höher scheint das literarische Risiko. Ein Kaleidoskop der unterschiedlichen Momente entsteht, ein Wandelporträt, „ein genreloses etwas / etwas das mir gehört“.

Im späteren Verlauf wird der Text selber involvierter, wiewohl verzweifelter. Eine Chronik des Stresses, ein Schlucken, Zurückkauen von Negativität, das durchaus Leser*in mitanfällt. warte ich muss das teilen fischt sich als Textschöpfung einiges an. Es endet mit einem Versprechen auf einen Roman.

Aslı Özdemir warte ich muss das teilen, Rohstoff, 2024 978-3751870191 253 Seiten

 

 

Silverman schickt mich Jörg Schieke

 

Sexy Phlegma Jörg Schiekes neuer Gedichtband Silverman schickt mich besucht ältere Langgedichte aus früheren Publikationen, wie auch Stimmungen, Erinnerungen eines lyrischen Ichs, das rückblickt, „Ostdeutsche Stimmungslagen“, wie es der Umschlag ausdrückt, untersucht. Dabei geht der Band verslich in drei Abschnitten vor, deren Gedichte nicht nur von unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Bauart erscheinen, mal die Vierzeiler, mal die unsortiert wirkende Bemerkung, mal die genaue Mitschnittarbeit, doch stets der zwischen angezogen und freigelassen changierende Schieke-Sound, sondern auch von zeitlich unterschiedlicher Perspektive greifen. Die Sehnsüchte zu Meer, dem Strand, den Schiffen treffen auf „Lädies“, Köche, Kino, bisweilen wirken sie den Sprachgebieten Thomas Kunsts nicht unverwandt. „Manche sind neidisch auf dich, weil du so abgefahrene / Sorgen hast.“

Schieke versteht es, in den Texten Situationen zu schaffen, die begehbar wirken, sie nicht zu überzeichnen, dabei doch genau zu spracharbeiten, immer wieder Volltreffer zu landen. Das Risiko, in inselbehaftete Erinnerungsgebiete vorzudringen, einen Affekt in die Literatur möglicherweise einzulassen, hält der Autor unter Kontrolle – ohne wiederum zu undistanziert zu operieren. Verglichen mit frühesten Bänden aus den 90er Jahren geht es zwar etwas geruhsamer zu bei Silverman schickt mich, möglicherweise dürfte durchaus wieder gewagter aufgebrochen werden, doch scheint gerade dieser Band in seinem Rückblick ein nötiger zu sein. Vielleicht ein Freischreiben, Freimachen durch Ververslichung jener Gedächtnisstoffe.

„Jeder Hinweis kann nützlich sein und darf mit den anderen
Hinweisen feiern. So entsteht eine Rangfolge, wächst
eine Gegenkraft.“

Die insgesamt schlicht-konzentrierte Haptik der Poetenladenveröffentlichung stützt Schiekes Lyrik. Es hält den Platz frei für die typische Ironie, die sich wohlhütet in den falschen Hals zu gelangen, stattdessen Mitschwingen erzeugt. „Die beiden leben seit einem / Jahr aus Cindys Strandrucksack.“ „Die Neuen // wohnen im unbeheizten Teil eines alten / Entschuldigungszettels. Auf der Raucherinsel / gibt es einen Basketballkorb.“

Jörg Schieke Silverman schickt mich, Poetenladen Leipzig, 2024 978-3948305222 88 Seiten

 

 

DMZ Kolonie Don Mee Choi

 

Wie Schock klingt DMZ Kolonie, der Band mit den Siedlungen in militärisch hochbefestigter Grenzzone zwischen Nord- und Südkorea im Titel, hält, was er verspricht. Don Mee Chois Exkursion zu vielschichtigen Bruchsituationen ist, ausgezeichnet übersetzt von Uljana Wolf, nichts weniger als durch und durch verstörend. Die Art und Weise, eine Materialcollage, somit blickimmanente Stoffbefragung, die Choi, Dichterin und Bildende Künstlerin, vornimmt, ist jedoch offen genug, um ein poetisches Hoffen/ Handeln anblitzen zu lassen – wo immer es sich bietet. Wolfs Virtuosität im Umgang mit Sprache, zurückgenommen wenn es sein muss, geballt komplex, wenn es nottut, tut dem bei Spector Books in der allemal empfehlenswerten Reihe Volte exp. erschienen Band gut – ein anderer Sprachduktus scheint hierzulande kaum vorstellbar, um die „heimwehkranken Spatzen aus einer weit entfernten Stadt“ vorbringen zu können, in ihren Anliegen, Waisen-Denk-, Bild- und Nachbarnfunden.

„Kinder können, wie Ratten, auch im Dunkeln fröhlich sein.“

Großformatig, beinahe ein Sachbuch/ Sagbuch, mit Schnitten, Wechseln in Typografie zu Interviewauszügen, Gedichten, Handschrift etc., arbeitet sich DMZ Kolonie an Zeichnungen, Fotos, Originalschriftstücken, nachempfundenen Einträgen, Logs, Lyrik ab – wie ein Vortrag, buchgedeckelt.

„Erinnerung der Erinnerung. Erinnerungskind.“

Die Flug-/ Fliegemetapher, die Wie-Vogel-Existenz, die ständig übersetzt, sich hinübersetzt, zieht sich als Faden durch den Erinnerungsteppich. „Zwanghafte Übersetzerin“ als Selbstbezeichnung Don Mee Chois kommt ganz konkret im Text vor. Außerdem krass anmutende Schnipsel (Gedichte), Montagen aus dem Interview mit Herrn Ahn, einem arrestierten nordkoreanischen Sympathisanten, das Don Mee Choi geführt, abdruckt, verwendet. Ein Stammeln zwischen den (gefolterten) Seiten, als schmerzhafte Lektüre, aus dem sich weitere Konzepte des Bands ableiten: die Vokalextraktion, das Visuelle System, Symbole vs Konkreta. Mit jedem Umblättern, mit jedem neuen Kapitel geht etwas Neues auf, das mit den vorherigen Lichtwirkungen erst vollends wirkt.

„Das Universum ist ein Taumelraum.“

Waisen im Haft-Planeten Neun, atemlose Ich-Protokolle jener Waisen: „Meine Schwester konnte sich nicht bewegen, sie wurde wieder erschossen“ aus der US-Konfliktchronik, wiederum mit einer Verbindung hergezeigt, hier zu Waisenkindern von Kabakovs Schule-Installation, in Marfa, Texas, USA, „die Vereinigten Statute der Apparate“.

Dann hochpolitische Dialoge, Gespräche um unrestlos aufgeklärte Massaker – ein Treffen mit der feministischen Wissenschaftlerin, politischen Aktivistin Ahn-Kim Jeong-Ae, Forscherin und Taucherin in ideologischen Maschinerien, die der Strafkolonie Kafkas zugesellt werden: „Es ist nicht möglich, Schnee zu zählen.“

Ein weiterer Kapitelkomet kommt, die Spiegelwörter, der „Widerstand“ als spachlich-leslicher Modus, der zur Tätigkeit aufruft. Nämlich hier: Zum Spiegel gehen, sich selbst nicht ausblenden in jedweder Rolle, auch nicht als Lesendes, so die Worte überhaupt erst zu gewohnter Lesbarkeit (bei-) tragen.

„Wir, die Waisen, die keine Waisen waren, jubelten mit unserem neuen Alphabet [...]“ / „See you at DMZ!“

Schließlich wie nach der Vorstellung, wird mit den angehängten Nach-Anmerkungen über die Listen, Palindrome, Collagen, grafischen Arbeiten inhaltlich erweitert neu-berichtet, immer noch mehr Details und Zooms, Verkettungen, Zitate ans Licht gebracht, sozusagen außerhalb der Präsentation, die dadurch nichtsdestoweniger Teil derselben sind, angeführt in einem anderen Regierahmen.

Ein „fluides Gedächtnis“ schreibt Uljana Wolf, „das in mehrere Richtungen fließt“, in ihren eigenen Anmerkungen, die den Band beschließen, über die persönliche Arbeitsweise Don Mee Chois. Darin auch zu finden, ist die „Möglichkeit, Sprache zu verändern und damit auf die Wirklichkeit einzuwirken.“

Mit diesem Band, Mittelstück einer Trilogie Chois, gelingt davon eine Menge. Die beiden anderen Teilstücke sind in Arbeit – gewiss auch sie irgendwann auf Deutsch zu lesen, eine Erfahrung von Sprengkraft.

Don Mee Choi DMZ Kolonie, Spector Books Leipzig, 2023 978-3959057165 168 Seiten

 

 

Meine Stadt Xi Xi

 

Willkürliche Muskeln „Da kommt ein Mensch, der wie eine rostige Schere geht, und zieht ein Stück einer zerfledderten Tageszeitung aus dem Papierhaufen.“

„Dann werden auch die hässlichsten, banalsten, seltsamsten, längst vergessenen, nutzlosaberzuschadezumwegwerfen Dinge ausgegraben und in die Bambuskörbe gestopft.“

„Ruckzuck mache ich es mir auf dem Sofa bequem, ohne die Absicht wieder aufzustehen. Sobald ich sitze, nehme ich Kontakt mit dem Fernseher auf und stoße auf eine Serie namens Super-Supermarkt.“

„Auf dem Umschlag steht mein Name, nämlich Aguo; außerdem meine Adresse, nämlich Mohrrübenbau, Hinterhaus Block B, 11. Stock Nr. 12, Kohlkopfstraße 199, Bezirk Grünwäldchen.“

Mit einem (von vielen) Helden namens Mike Munter, der Telefondrähte verlegt, Anlagen repariert, mit Schildern, auf denen steht, man solle die Parkbänke nicht beschimpfen, einer Menge weiterer Sinnblitze heftet sich Xi Xis Meine Stadt zu einem turbulenten literarischen Porträts Hongkong in den ausgehenden 70er Jahren zusammen. Die sehr offene Schreibweise, kombiniert mit kleinen Zeichnungen, die wie Embleme den Textfluss unterstützen, schraubt diesen bedeutenden chinesischen Roman durch seine Symbolarbeit. Genau beobachtet, ziemlich kurzweilig, dabei jedoch rätselhaft ungreifbar zwischen Zimmerleuten, Strippenziehern, Ereignissen, Schiffsreisen.

„(Aguo, ich wünschte, ich wüsste, was Du gerade machst. Macht Deine Arbeit Spaß? Schade, dass es so schwierig ist, Briefe von Dir zu erhalten, selbst wenn Du mir schreibst. Mein Schiff ist jeden Tag woanders.)“

Karin Betz hat den bei Suhrkamp kürzlich erschienen (damals als Fortsetzungsgeschichte veröffentlichten) Romanklassiker recht spritzig wie mutig übersetzt, dazu mit einem Nachwort versehen, das die Komplexität in der Anlage erst deutlich macht. Aus ihrem Nachwort: „Auch wenn Meine Stadt Wohnungsnot, Hunger, Flucht, Krieg, Rassismus oder kollektiven Selbstmord beschreibt: Das Urteil bleibt immer dem lesenden Beobachter überlassen. Die Realität wird an ihrer eigenen Absurdität gemessen, und das Phantastische wird wie Sand ins Getriebe des Realen geworfen, vor dem wir staunend stehen.“

Meine Stadt ist ein subtiles Kommunikationsbuch, mit schrägen Ideen wie „Die neuen Instant-Romane des Apfelbuchverlags sind daher eine herausragende Erfindung.“ Das Satirische verbindet sich hier mit dem Unabwendbaren, die Details mit einem nicht zu fassenden Ganzen, dessen 70ies-Flair heutzutage weit entfernt scheint. Dass die eigenwillige Erzählstruktur den Roman trotzdem oder gerade deswegen zu einem Kultbuch hat werden lassen, spricht für Xi Xis erzählerischen Spürsinn, ihren sprachverspielten Umgang mit Realien – wie ein Beispiel, um Zeitlosigkeit herzustellen.

Xi Xi Meine Stadt, Suhrkamp Berlin, 2023 978-3518431061 253 Seiten

 

 

S T O P Die Pausen des Sisyphos Dana Ranga

 

Vektor des Werdens Ernest Wichner übersetzt Dana Ranga aus dem Rumänischen. Die Filmemacherin & Lyrikerin schreibt in S T  O P Die Pausen des Sisyphos, einem schmalen Band mit Prosagedichten, über gegenwärtige Beobachtungen, Konstatierungen mittels lyrischen Analysen: „Heute bagatellisiert der technische Fortschritt die / Entscheidungen“, aber auch über „Hasenkäse und Kuckucksmilch“.

Ihre Texte gliedern sich diszipliniert ins Strophische, können mitunter lang und länger geraten, addieren sich, stets münden sie in eine Art Kommentar, der sich als nachgestellter Titel entpuppt, oft als eine
Wendung oder Überraschung auf das zuvor Durchquerte.

„Mit einem Komma das Glück des
Ausrufezeichens abzuwürgen“

Die Pausen des Sisyphos, ein ergiebiges Denkbild, teilen sich auf in die Betitelungsbuchstaben S T O P, bilden auf diese Weise Kapitel, die den Lesefluss betont umlenken, verlangsamen. Fast durchgehend begegnen wir einem lyrischen Ich, das sich mit Auf-, Um- und Rückrechnungen einer unbestimmten Vergangenheit stellt, Parallelen zieht aus Familiären zum Allgemeinen sowie Wiedererlebtem als Überblendung: „ich habe mich wie eine Libelle in einen trüben See / verliebt.“ Mit einem Blick für die abstrusen Schrecken des Alltags: „Karten mit abweichenden Straßenführungen, Karten / mit unterbrochenen Straßen, Karten ohne echte / Straßen, Menschen mit diffusen Wünschen, Mütter / erziehen Kinder, die keine Fragen stellen // viereckige Räder“.

Wichner übersetzt karg, die Sprache ist weniger am Klang oder etwaigen Ablenkungen interessiert, als vielmehr dicht am Bild, sozusagen durchökonomisiert, zu bleiben. Melancholische Rede, wenig Eingriffe formen die Wortlandschaft Dana Rangas, die Pausen als Sinnesaufgaben zu begreifen scheint, in einer Welt aus Druck von allen Seiten.

„Eine tote Fliege und ein Häuflein Asche gehen
gehen Weg um Weg rennen ohne innezuhalten
Straßen entlang tragen tragen Schritt für Schritt
ein Verbrechen eine Uhr einen Verzeihensapparat
aber aber wenn mir etwas herausfällt aus einer
kleinen Tasche meiner Kleider und zerbricht und
ich entkomme

Ich möchte über alles stolpern das ich verloren
habe verurteilt alles alles zerstörte Leben zu
verknüpfen Staubfäden hopp hopp schwer sind
meine Lider von alldem was ich glaube wenn
das Davonrennen nicht mehr reicht und ich renne
bis ich von noch noch höher oben nur noch
ein klein wenig herunterfalle
                                                            ein klein wenig wenig“

Dana Ranga S T O P Die Pausen des Sisyphos, Matthes&Seitz Berlin, 2023 978- 3751809009 69 Seiten

 

 

Frank: Sonette Diane Seuss

 

Keine Sorge, ich habe bezahlt Bei Maro erscheint Franz Hofners Übersetzung der Sonette von Diane Seuss unter dem Titel Frank. Entlehnt dem Winehouse-Debütalbum, sind Seuss‘ Texte eine eigene Auslegung sowohl des Sonetts als auch literarischer Offenheit (=frank). Sture 14 Verse / Zeilen formen ein titelloses Sonett, das sich als „Memoir“ selektiv an Episoden, vor allem Bildern aus dem Lebensfundus des lyrischen Ichs abarbeitet. „Armut ist, wie das Sonett, eine gute Lehrerin“.

Auf 263 zweisprachigen Seiten variieren dessen Verslängen zum Teil erheblich, gegen Mitte gibt es diesbezogen aufklappbares Papier. Das Layout des grafisch ansprechenden Bands ist eine Art extrem-CineScope-Format, fast ein Fotoband – die Bilder von Seuss wie ein Trippen durch white-trash-anmutend Gefilde, genauso wie zwischenbesiedelte Nirgendwo-Weiten, Motelromance, groupie-artige Aufgebote Dichter:innen, Musiker:innen, die allerdings nie Selbstzweck geraten, sondern stets integrale Verve in die jeweiligen Schüsse tragen. Besonders im Fokus: das Altern, Jobs, die (un-) familiäre Situation des lyrischen Ich, ein suizidaler Sohn, Abhängigkeit – wie grundsätzlich alles in Frank von irgendetwas abhängig scheint, Tabletten, Spiegel, Stütze etc. „Es gibt Tage, an denen man nichts lesen muss, Vögel anstarrt“.

Die depressive Stimmung wird aufgezogen, vor allem in Hofners nicht immer scharfer Übertragung der Nuancen des Originals, als ein schwer zu durchmessener Strom; nur um von herzigen Begegnungen (wie Treibgut) für kurze Momente aufgehellt zu werden – wie ein Tag im Leben:

„so wie ich mal auf einen Kerl im Plattenladen zuging und fragte, von wem der Song „Refugee“ sei, und er sagte „von mir“, und ich merkte, nachdem ich die Platte fand und das Foto auf dem Cover sah, dass ich Tom Petty nach einem Tom Petty-Song gefragt hatte, den ich im Radio gehört hatte, als ich hungrig war und müde und allein.“

Oder eine Begegnung mit dem Dichter Robert Creeley: „Creeley verschwendete seine Zeit nicht einmal für Vokale. Er buchstabierte „sagte“ so: sgt. Ich würde / gerne sagen, wir unterhielten uns, aber das stimmt nicht.“

Die Desillusionierung ist omnipräsent, „ihr Frauenhass / war unbestreitbar“, „ihre falschen Feuerkronen“, die Sonette sind Protokolle einer Suche heraus. Das idolisierte Fliehen-können in Kunst (vielleicht zu anderen) bleibt ein einsamer Weg, aus dem es kein Abbiegen zurück zu geben scheint. Zu Dickinson (Emily-Reminiszenz?) dichtet Seuss: „Handschrift unleserlich, sogar beim Backen eines / Früchtebrots nach Rezept geriet ihr Früchtebrot seltsam, / saftiger als das Original“.

Frank: Sonette ist eine gefühlvolle Publikation, das Format originell. Wer bei Hofners zuweilen wechselhaftem Flow nicht ganz mitkommt, liest das Original – ein durchaus sprachgewitztes Dichten, das ein paar Layer über dem eigentlichen Inhalt an klanglichen Operationen bereithält. Diane Seuss ist zu Recht für dieses Buch im vergangenen Jahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet worden.

Diane Seuss Frank: Sonette, MaroVerlag Augsburg, 2023 978-3875126723 280 Seiten

 

 

Der Garten des Cyrus Thomas Browne

 

So wurde Starkatterus, der alte Kämpe, verbrannt, und Ringo bereitete Harald, dem von ihm erschlagenen König, einen königlichen Scheiterhaufen Die neue Reihe Wildes Wissen bei Matthes & Seitz Berlin, die Judith Schalansky nach den erfolgreichen Naturkunden betreut, startet mit einem prachtvoll durchgestalteten Band zu Thomas Browne. Wildem Wissen, einem Term, den Lévi-Strauss als Wildes Denken vorpopularisiert hat, wird Brownes legendäres Schreiben sicherlich gerecht. Es fragt sich, ob das Schreiben wild ist oder war, das Wissen beim Schreiben oder das Wissen der Leser:innen beim Lesen. Feststeht, Browne war ein Internet-Autor des 17. Jahrhunderts, dem es gegeben war über alles und jedes zu schreiben, ursprünglich Arzt, dabei alles und jedes andere über unwillkürlich analoge Verlinkung hinzuzubeziehen. Der Garten des Cyrus ist eine hier einzigartige Sammlung Haupttexte des Autors, dessen vielgerühmter Stil (nicht wegen seiner Vernetztheit, sondern wegen der Anmut seiner Sprache, „auch der Mensch selbst ist eine Blase“) von Manfred Pfister ausgewogen rhythmisch übersetzt worden ist. Es ist interessant, zwischen den Essays und Traktaten Brownes zu blättern, der über so unterschiedliche Themen wie Falknerei, Religion, Urnenbestattung, den Vogel Strauß, Prophezeiungen („Wenn man Venedig trocknen Fußes erreicht“), Mumien und eben den Garten des Cyrus schreibt. Das in melancholischem Lila gehaltene Buch bewegt sich mit seiner Entscheidung, alle Links an Ort und Stelle als Metatexte, Seiten- und Fußnoten aufzuschlüsseln tatsächlich am Rande von Überproduktion. Die Illustrationen Schalanskys, Collagen alten Stichematerials im Stile von Max Ernst und anderen, tun ihren Teil, Brownes Schreibessenz, den Kontrast aus geistiger Fülle und textlicher Schlichtheit, als Kuriosität herzuzeigen, das Wilde Wissen, das in sich wild ist, als zusätzlich wilde Inszenierung ein wenig ironisch zu bespielen – was schade ist, gleichwohl inhaltlich der Sache keinen Abbruch tut, dass hier zum ersten Mal ein derart einflussreicher Schriftsteller, der nicht Literatur im eigentlichen Sinne verfasste, in Werkweite vorgestellt wird, mit dem passenden Untertitel Wesentliche Werke.

Angeschlossen ist ein Museum Criticum, das eine Gruppe Stimmen über die Jahrhunderte zu Wort kommen lässt (bis Clemens J. Setz), die sich mit Brownes Textleistungen auseinandersetzen, seine „einnehmende Rhetorik“, wie de Quincey schreibt, ihm aber auch kritische Verweise erteilen. Oder man liest darin von Brownes Einordnung im Kontext der englischen Sprache, zwar hinter Shakespeare aber noch vor Milton, was seinen Wortschatzreichtum betrifft. So ist zu erfahren, dass Wortwendungen wie „hallucination“, „electricity“ oder „computer“ Brownes Vokabular zugeschrieben werden.

Der Garten des Cyrus ist ein kräftiger Einstieg in Wildes Wissen und unabhängig von seiner eigenwilligen Herausgabe literaturhistorisch gewiss fällig (seit 300 Jahren).

Thomas Browne Der Garten des Cyrus: Matthes & Seitz Berlin, 2022 978-3751800242 575 Seiten

 

 

Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher Elisabeth Wandeler-Deck

 

Diese womögliche Region Ein neues Buch von Elisabeth Wandeler-Deck erscheint im Ritter Verlag, ihr erstes an dieser Stelle: Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher. Hierin erzeugt sie ein Textil, eine Materialverwebe, von unterschiedlichen Collagierungstechniken bedient, nach alphabetischem Ordnungsprinzip gereiht, jedoch selbständig, ablösbar. Die analog verlinkten Subtexte, oder Hyper-, Para-, Meta- etc. werden damit glossariell in ihrer Verwandtschaft bestätigt. Manchmal erscheinen sie auch einfach wie auf einer Party, auf der sie unbedingt mit dabei sein wollen, zusätzlich in den Bedeutungsraum hineingedrängt. Die Perspektive auf sie ist einer Kamera vergleichbar, die still über den rauchenden Köpfen fährt – in etwa. Wiederkehrende Begriffe, Denkbilder sind u.a. die Antigone-Figur, „das Mädchen, dem ich folge, nenne ich Antigone“, das Blässhuhn, das „an unerwarteter Stelle wieder auftaucht“ (nach dem Eintauchen) – „Wörter sind wie Blässhühner“, ein Bub, ein Bruder sowie eine ganze Menge Nachrichten, Aktualitäten rund um Affoltern, Zürich. Stets durchkämmt Wandeler-Deck, von Neuem mit jedem Eintrag, den großen Teich der Worte, den „Materialverschieber“, markiert, lässt fallen, schweift ab, lässt los, zurrt fest, vermeidet dabei Pathos, Überhöhung oder narrative Umstandsgestaltung. Stattdessen dichtet sie, auch in der Prosa, präzis-rhythmisch Liste um Liste zusammen. Essayistische Exkurse zu Gärten, Architektur, Filmen laufen über ihre eigenen Referenzen, simulieren an der Simulation mit. Bei späteren Einträgen, wie zu „r“ und „s“, weitet sich die Textlänge, nicht jedoch ihr Stil, sie werden zu dichten, erlebbaren Staben-Tableaux. Das Textil wird trotz alphabetischer Kapuze zu einem Unendlichkeitsbeweis, festgepinnt in gerade zwei Deckeln, „einen Bruder falten“.

 h-4
Das Kind A. ist gegangen. Das Kind geht. Das Kind ging auf allen Vieren, das Kind richtet sich auf, es sagt. Es sagt sich, spricht das Wort aus, das zentrale, es sagt es. Nein sagt’s und steht. Das Kind hat gestanden.“

„Trommeln Sie präziser“, „Schnappsätze“ (bilden Textfelder, bilden Textränder), „was ist das für ein Wort, dieses Guckenwort“, „wo passiert Gucken“ und „Horchwörter“ stecken Wandeler-Decks „Randgänge“ ab, das Wort fällt nicht selten. Was allen Texten in Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher, trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemein ist, dass sie sich erfolgreich gegen jede Vereinnahmung verbarrikadieren. Konzentration zum Lesen ist vonnöten, der Band ist nicht für ein Hintereinanderweg angelegt. Er bildet vielmehr ein Manual von Literaturstrukturierung, „nach und nach begann der Samstag“.

„Im neunten Kapitel tut etwas nichts zur Sache. Schön ist es hier, sagt jemand zu jemandem und geht weiter.
Wir verwenden, ausschließlich, Originalersatzteile.“

Elisabeth Wandeler-Deck Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher: Ritter Verlag, Klagenfurt 2022 978-3854156468 184 Seiten

 

 

mütze 34

 

Festgefügte Fruchtfolge Die 34 beginnt mit einem korrigierten Wiederabdruck der Gedichte von Lucía Sanchez Saornil unter dem Titel Ein paar Gedichte, aus der mütze 33, aus dem Spanischen von Brigit Kirberg und Christian Filips. Die „radikalen Interpunktionsinterventionen“ s.u. sind verschwunden: „An das Seelenpiano / legt keiner Hand an“. Es folgt ein weiterer Text der Dichterin, ein Vortrag zum Thema Feminismus, der auch heute (fast) so gehalten sein müsste. „Sie wettern zwar gegen das Eigentum, sind aber selber radikal besitzergreifend“. Leider ohne Datum, „Man verschmäht die Frau als bestimmenden Faktor der Gesellschaft und weist ihr den Status eines passiven Faktors zu. Man verspottet den direkten Beitrag einer intelligenten Frau zugunsten ihrer vielleicht unfähigen männlichen Nachkommen. Ich sage es nochmal: Wir müssen die Dinge beim Namen nennen“, aktueller kann Historisches nicht sein: „Letzten Endes bin ich der Meinung, dass die Lösung dieses Problems allein in einer angemessenen Lösung der wirtschaftlichen Frage liegt. Im Systemwechsel. Nirgends sonst. Alles andere behält die alte Sklaverei bei und ruft sie lediglich bei einem neuen Namen.“

Ein Text von Carl Weuster, Zur Frage unseres Exils, in einer überdeterminierten Sprache zwischen DIN-Büro- & Literaturjargon geht via spirituell konstruierter Gegenwelt aus „Reservaten, fröhlicher Diaspora“, zwischen Lyonesse und Brocéliande, der Suche nach „dem Ursprung des Exils“ nach. Diese bliebe eine Aufgabe der Gemeinde, „die Kirche leitet hieraus unseren Anspruch auf Rückkehr ab, sowie auf Rückübertragung der Gebiete und Stätten, die sie als die unseren identifiziert haben will.“ [...] „Die Philosophie der Metazeit ist die jüngste unserer vier großen Schulen. Wie alles Neue verdanken wir sie dem Lachen über das, was vor ihr kam, wie auch dem Verhaften daran.“ Weusters Prosastück wirkt wie eine Allegorie auf jüngste (älteste) Verwerfungen des (realen) Zusammenlebens (Lachens). Es gebe „Praktiken der Erleuchtung“, z.B. „Fasten, Gebet sowie die Technik des meditativen Lachens“ zwischen „Sklaven-Sein und Sklaven-Sein“ stellt die Erzählstimme fest, schließlich das kommunal geleistete Schweigegelübde, welches aufzuweichen, einmal zur Erkenntnis gelangt während Forschens, den Traktat interessiert. Zuallerletzt jedoch sozusagen im Angesicht des Großen Schöpfs, wie Iwan Karamasow, schließt der wissbegierige Traktat mit einem „Geheimnis!“ und breitet damit erneut den Mantel des Schweigens über etwaige Antwort.

Heinz Peter  Geißler beschert eine Sternstunde. In seiner Prosa Unsere berühmte argentinische Stille reiht sich Sagenhaftes aneinander, „Man bleibt in seiner Betrachtung immer zur Hälfte ein Schmetterling“. Spielerisch, doch mit allem technischen Ernst purzelt aus einer niedlichen Bruder-Rahmenhandlung ein Kolibri nach dem nächsten. „Das Schächtelchen blieb das Schächtelchen. Wind kam von vorn und verschwand dementsprechend hinten. Erinnerung schaute die Wirklichkeit wie aus einem Rückspiegel an. Wirklichkeit fuhr auf die Erinnerung zu. Eine Astgabel wurde zur Erinnerung an eine Zwille.“ Seine Leichtigkeit verbunden mit der ihm eigenen Tragikomik, bei sprachlicher Ausgeh-Lust, macht Geißlers Text zu einem Showstopper, der jedes Wiederlesen mit neuen Finessen belohnt. Stills für die Ewigkeit:

„Er beißt beim Schlucken immer mit seinen ganzen Zähnen zu.

In der Biene sitzt ein Ton und sie fliegt mit ihm davon.

Wenn ich in meine Hände sehe, sehe ich Freude in meinen Händen drin.“

Jede*r findet vermutlich eigene Satz-Ewigkeit in dieser Berühmten argentinischen Stille.

Danach haben es die Texte schwer. Michael Donhauser erforscht in Parfums den „Duft von Tinte“ in abenteuerlich ausufernden Ein-Satz-Miniaturen, die nicht ganz auf den Punkt kommen möchten, sondern herum flirren & mit jedem neuen Komma eine andere Richtung einschlagen, jedoch im letztendlichen Bogen in ihre Semantik zurückfinden. Als wäre jenes Schreiben jeweils ein Jungfernflug einer Biene s.o. aus dem Stock in den Stock.

„uns blinkt ein morgen, ohne immortellen“, etwas geschmolzene Prosa kommt von Jayne-Ann Igel, die in den 80ern (Entstehungszeit) startet, so die Selbstauskunft, und mit Texten heutigen Jahrs „korrespondieren“, in Wirklichkeit aber etwas ausgestellt wirken, ohne dass sich jenseits ihrer eigenen Logik etwas ergibt, „das funkeln der sterne auf vaters zunge“ zieht sich ein wenig.

Eleonore Frey beschließt die aktuelle mütze mit Täter und Tatort, einer dichten, wenn auch stellenweise bemühten Engschilderung von Kriegs- und Kindheitslogik, die ebenfalls mit einem unglücklichen Heute zu korrespondieren scheint.

Geißlers Beitrag bleibt die Punktlandung der 34, eventuell sogar einiger mützen.

Mütze 34, herausgegeben von Urs Engeler, Schupfart 2022

 

 

mütze 33

 

rallalalaio Christian Filips‘ Erstes Gedicht, 1987 stellt alles Weitere in den Schatten mit Bildern wie einem Topf, auf dem eine Maus klebt. Die Illustration rechts am Heftrand zeigt den gedichtlich errichteten Sachentierturm, bei dem Mensch zum Glück nicht vorkommt. Man blickt gespannt auf das Zweite Gedicht, von wann.

Urs Engelers Mein lieber Lühr, ein Vortrag, gehalten 1998, zeigt mit einer Gegenüberstellung, besser Gegenüberlesung zweier Gedichte von Hugo Ball (Wolken) „baumbala bunga“ und Thomas Rosenlöcher (Die Kirschbaumepistel) „im Blütensausen und Insektendonner“ u.a., dass „meistens schon nach dem zweiten Mal [Lesen] klar ist, ob das Ding vor uns überhaupt ein Gedicht ist oder nicht. Wenn nämlich nach dem zweiten Mal klar ist, was da steht, und ebenso deutlich, dass da weiter nichts ist, als was man verstanden hat, dann ist es kein Gedicht.“ Und Dasein eines Rosenlöchlerschen Satzes im Gedicht „nicht damit Sie verstehen, sondern damit Sie sehen und hören, was in ihm alles passiert.“ Geschehen „nicht einfach nur angesprochen, sondern [um] ergriffen“ zu werden durch ihr „Noch-einmal-erschaffen“ des Wahrgenommenen mit den „Mitteln der Sprache“ – ein grundlegender Vortrag, der sprechen lässt, was zu sagen ist.

Nils Röllers Datengedichte verwenden eine Bleistiftspitze prozesshaft zur Formgebung in einem Silbenseismograph, „folgsam der Ordnung / des Betriebs / des Vehikels“. Feiner Rhythmus des Datensammelns „für die Nuss (mich)“, die sich selbst befragt, eichhörnchen-ersichtlich Beute zu sein oder aus zu sein auf Eichung („eichen“) von „Zeitmasse“. Eine Übersetzung des wörtlichen Mitfahrens auf einer Tramgelegenheit.

Im Anschluss Konstantin Ames‘ Liedmanagement, gewohnt wirschlaut, dabei fein verballte Wortpralinen, „1am“, die wenig Raum benötigen, oft vorzüglich versalzen, „sag selbst, wer schneidet hier Messer ab?“, „in der Art wie Regen fällt unter Wasser“.

Es folgen Michael Spyra Vier Gedichte und Brigitte Struzyk Einundzwanzig Gedichte, die beide jeweils Gänge zurückschalten, sich mehr als an Mitteilung interessiert ausweisen, Aufzählungen und aufgezählte Gedichte. Bei Struzyk im Sinne einer Standpunktbestimmung mit „Sprache / Die heute noch / Etwas heiser / Aus dem Weltall / kommt“.

Eine alphabetische Umordnung Raymond Roussels Versdichtung La Vue nimmt Christian Steinbacher mit Raubbau mit Roussel vor. Deren rhythmische Manieriertheit dadurch eine interessante Brechung/ Distanzierung erfährt:

„Ist er, der nach Bizarrem sucht auch ohne Creme“?

WIESE hat zwei Gedichte von Galal Alahmadi übersetzt. Von schnickschnackloser Qualität, Die schwarz leuchtende Tür, die selber ins sich eintritt, „Ich war keine Tür, von innen betrachtet [...] und mich draußen vergisst.“ Das zweite als eine Steigerung der Finsternis ins „Schwärzer-als-Schwarz“.

Eine ergiebige Schlussladung kommt mit der Übersetzung von Lucía Sanchez Saornil Ein paar Gedichte, aus dem Spanischen von Brigit Kirberg und Christian Filips. Texte aus den frühen zwanziger Jahren, unter Pseudonym verfasst, die bewusst die Zeilenoptik aufbrechen, einige radikale Interpunktionsinterventionen vornehmen – flirrende kurze Belichtungszeilen, mit Situationskomik:

„.Spiegel lassen Paare sich verfehlen
.Monokel purzeln in die Damendekolletés“

Mütze 33, herausgegeben von Urs Engeler, Schupfart 2022

 

 

Buch auf der Fensterbank Jelena Schwarz

 

Spuckwettstreit mit dem Mond Jelena Schwarz (1948-2010) war eine wichtige Dichterin in St. Petersburg, deren Werke unpubliziert blieben, erst nach der Perestroika veröffentlicht wurden. Gleichwohl war sie längst „unter der Hand“ eine der verbreitesten Dichterinnen ihrer Generation. Nun liegt eine Auswahl ihrer Gedichte auf Deutsch vor, die Daniel Jurjew übersetzt und herausgegeben hat. Darin erscheint außerdem ein Vorwort von Oleg Jurjew, der selbst Vertreter jener Schwarzschen Gemeinde gewesen ist, u.a. stark von ihr beeinflusst. Buch auf der Fensterbank heißt der schmale Band, Matthes&Seitz Berlin. Gerade weil der Reiz von Schwarz‘ Gedichten darin besteht, sehr formbewusst zu sein (Reimschemata, Metrik etc. aufs Schärfste zu achten) bei ihrer damaligen Ungedrucktheit, also praktisch gar nicht zu existieren, außer auswendig gelernt, performt oder im Samisdatbündel, stellt sich die Frage, was mit ihnen geschieht, wenn sie als „normales Buch“ herauskommen. Kann es überhaupt eine derartige Existenz für sie geben?

Die Gedichte bedienen sich, egal ob lang oder kurz, gern an Mythologien (römisch, chinesisch), französischer Klassik oder theaterhaften Maskenvexierspielen. Im Buch erschließt sich ihre verspielte Kraft nicht von vornherein, denn ein solcher Hang zu Flucht in utopische oder historische Kontexte ist zwischen normalen Buchdeckeln zunächst nichts besonderes, im Gegenteil eher oft überstrapaziert. Nicht jedoch so als „verbotene Ware“, auf der oder in der wirklich geflohen werden darf und soll – eine Fahrkarte aus der Gegenwart. Keine Sofareise nach dem Abendbrot, überspitzt gesagt. So ist den Gedichten ein wenig Existenzkontext geraubt, den sie aber brauchen – daher sicherlich auch ihre umfangreiche Bevorwortung. In letzterer schreibt Übersetzer Daniel Jurjew allerdings auch, dass er die schon erwähnten bekannten Formbewusstheiten von Jelena Schwarz aufgrund diverser Transferproblematiken im Deutschen (Reimarmut, Rhythmusrisiko...) fallengelassen habe zugunsten freierer Übertragung. Das ist nachvollziehbar und zugleich eine weitere Beschneidung bzw. Enthebung eines existenziellen Kontexts für die Gedichte. Wiederum offenbart sich eine handschriftlich auf Tarnpapier sonstwie geschmuggelte „Schmiererei“ viel mehr als außerordentliche Kunst, wenn sie perfekt in einem übertragen gedichthandwerklichen Sinne mit allen „Wassern gewaschene“ historifizierte Reimdichtung/ Epik beinhaltet, vor der der Hut zu ziehen ist. Jurjews sogenannte freie Verse verwaschen jedoch diesen schlüssigen substanziellen Aspekt des Originals. Es sind Ideenbündel, die leider dazu in oft eigenartig verstellt oder gestelzt wirkenden Satz- und Versbausteinen zusammengesetzt worden sind. Zwar auch oft gelungen, aber dafür nicht selten in nicht ganz nachvollziehbarer Verstiegenheit, die man sich genau bei Schwarz‘ vorher bis ins Deutlichste in den Vorworten wiederholter Strenge und Klarheit so kaum vorstellen kann, eine letztlich stilistisch offen uneinheitliche Übertragung.

„„Man sagt, du hast an die Geheimnisse des Lebens
Geklopft,
Das Blut seiner Seele gekocht,
Der Welt Geschicke liegen dir alle in den Händen,
So schwätzt man. Hier, ein Geschenk für dich.“
Da holte die Füchsin unter dem Rock hervor:
In Taubenform eine Flasche aus Jade.“

Ganz gewiss ist die Publikation interessant, doch entzieht sie sich ein wenig ihrer eigenen Substanz, bleibt in vielem womöglich doch ein Insider-Schatz. Den Gedichten ist einiges zusätzlich zu ihren aufgerufenen Bildern eingeschrieben. Diese deutsche Übertragung und Edition hat für sich beschlossen einen eigenen Weg zu gehen.

Schwarz Buch auf der Fensterbank: Matthes & Seitz Berlin 2022 978-3751800761 108 Seiten

 

 

Geschlossene Vorgänge Bertram Reinecke

 

In drei Prosastücken und einem Nachwort, das allerdings eher die Krönung der drei Vorgängertexte ist, unternimmt Bertram Reinecke bei Engelers Neuer Sammlung, als Geschlossene Vorgänge betitelt, eine Stil wie Zeitenexkursion, deren Subtitel Über einige biographische Artefakte etc. lautet. In Anklage des Daidalos ein „Beispiel für ein schlechtes Plädoyer“, wird manieriert und voller Volten wie Fallgruben in Rede und Gegenrede eine Sektion im Mythos vorgenommen. Faszination für Wort, Technik und Worttechnik verwebt zu einem ebenso ernsten wie abstrakten Bild, darin „Ascheflocken in den Wirbeln des Flügelwindes“. Außerdem zu lesen u.a. die Feststellung: „an sich selbst heißen die Sätze sonst nichts“.

Die nächste Station in diesem Texte-Triptychon ist ein Barock-Pommern Sybilla Schwarzscher Laibung, wo Sappho-artiger Text aufgetaucht scheint, an dem sich Briefeschreiber Gottfried in Lieber Leopold zu schaffen macht, die Fragmente „sapphisch“, einmal „alkäisch“ entziffert beifügt, ansonsten schreibt, „Bei uns befindet sich alles Wohl, Grüße die Deinen [...]“. Nicht ohne Ironie, und unter Zunahme der emotionalen Komponente, geht der kurze Text scharnierartig in die Rügenwelt aus Küsten, Bodden, Landszene und vor allem Stein der nachfolgenden Erzählung Die Hüter der Steine hinein. In dieser dichten, nun vieler stilistischer Mitbringsel enthobenen Fabel wird ein Außenseiterleben zu „Wende“-Zeiten geschildert, kaum noch abstrakt, zwischen Strand und Dorf angesiedelt. „Silvie war damit beschäftigt, Kiesel auf ihrer Bauchdecke zu stapeln“.

Bevor das Nachwort, der bei weitem direkteste Text, die Sache mit den „biografischen Artefakten“ als Jobfundstücke einer brotmäßigen „Aktenvernichtung nach DIN 66399 gemäß Schutzklasse 3 Sicherheitsstufe 7“ erklärt, erfahren die Lesenden in Hüter der Steine dieses über dessen Protagonisten: „längst habe ich mir abgewöhnt einen mittelteuren Whisky zu nehmen, überhaupt gebe ich weniger auf mich acht, und das fühlt sich an wie eine Erlösung.“

Geschlossene Vorgänge ist eine clevere Sammlung Prosa, für die es Geduld braucht, den Willen sich selbst einzulinken, die jedoch mit von Anfang an sehr feingliedrigen Sätzen belohnt und einer im Endeffekt virtuosen Verklarungsbewegung bis hin zum letzten Satz des sogenannten Nachworts. So eigenständig wie formal mutig.

Reinecke Geschlossene Vorgänge: Engeler, Schupfart 2021 978-3907369043 116 Seiten

 

 

In Melanin Katharina Kohm

 

Gebürstetes Wasser In der Reihe Licht im Frankfurter Gutleut Verlag erscheint der dritte Gedichtband der Lyrikerin Katharina Kohm unter dem Titel In Melanin. Unterlegt mit Arbeiten der Serie schneefeuer von Michael Wagener ergibt sich ein ansprechendes Miteinander von Texten, Grafik, Fotografie. Die unterschiedlichen Abschnitte aus In Melanin selbt sind nicht nur recht divers in Sachen Textnatur (Prosagedichte, Motti, „Gedichtgedichte“ usf.), sie sind es vor allem auch durch ihre Vorstellung: Schriftgrad & Type wechseln sich stets, was einmal mehr unter Beweis stellt: Texte sind mindestens so gelesen wie sie eingekleidet wurden, sprich: stachelig, schnell, zugänglich, beides, still, augenfällig, leise, umgekehrt, geruchlos usf. In Kohms Motti-Herde ziehen u.a. Les Murray, Proust, Hilde Domin, Hölderlin, Celan mit durch die lyrische Rede. „GIESSKANNEN ZWISCHEN / MOND UND SONNE“.

Kohms Gedichte meiden das allzu Gegenwärtige, mehr noch, sie vermeiden die Zuspitzung auf das Konkretum an sich. Sie verwenden vielmehr eine einander entziehende Taktik; „– IST GELOGEN“, schleichen sich aus vermeintlicher Zeilenkohärenz heraus: „AM GAUMEN KLEBT / GEBROCHENE SPRACHE NICHT“.

„[...] DER GEISTERVOGEL
AM WÖRTERSEE TRIFFT DICH NICHT.“

Ihre Texte schaffen sich selbst eine andere Welt, mit märchenhaftem Personal, Froschkönig oder Seidenreiher, immer wieder Fischen & musikalischem Vokabular, das oft nichts weniger als die Zeit verhandelt. Das Vergehen von ihr, stur & nachrichtenlos: „zeit / schwindelt / wenn sie sich / selbst sieht / in diesem / hohlspiegel / diesem klumpen / holz“. Die Gedichte wirken vor allem in ihren Details, als kurve sich genau dortherin etwas. Ein Blitzer, dann läuft es schon weiter, ganz wie „kapitel / die nie beschrieben werden / nur betreten sind“.

„ZEICHEN
RETTEN
ABGERISSENE VERSPRECHEN
RANKEN
UM EIN TÜRMCHEN“

Kohms Lakonie arbeitet über sprachliches Understatement, drängt bildlich dagegen ins Barocke, lässt sich ihre eigene Zeit, „kopfkissenorte / diese worte“, um sich in nächster Zeile wirsch umzuwenden, etwas anderem zu oder als Kippmoment zum Vorhergehenden. Ihre Lyrik fügt sich mit kleineren Reimen zusammen, hineingeschmuggelt, sucht sich Nahestand durch Alliteration, Assoziation – bei allem jedoch immer behutsam & ungrell. Und doch liegt ein Gedichtband vor, der unberechenbar bleibt, eine Art Schwebstoff wie Melanin.

„kloß im hals:
ein gewölle
kleines all im schatten
ein globus“

Kohm In Melanin: Gutleut Verlag, Frankfurt 2021 978-3948107338 68 Seiten

 

 

Mütze 32

 

Begegnung mit einem Baiovarius Christian Filips‘ Arbeitsjournal Flugmäusemodus, Höllengelächter eröffnet Mütze 32, zu Theresia Prammers Danteprojekt letzten Jahres. Dabei geht es Filips um den Komplex, in welcher Sprache Vergil bei Dante denn tatsächlich spricht / sprach & wie diese heute übersetzt sein könnte, der Kluftsprung zwischen Latein & Italienisch. „Der abrupte Wechsel der Töne in der Commedia stellt immer wieder vor die Frage: Soll man übersetzen, was die Figuren im Text selbst nicht verstehen oder falsch verstanden haben?“ Mehr noch: „Bezieht nicht die Commedia ihre Komik gar aus diesem verschwiegenen Übersetzungsgeschehen?“ – Dante und Vergil, die „einander unentwegt missverstehen“. Schließlich das Diskutieren der „darkroom“-Ästhetik der Höllenqualen, sowie das über Jahrhunderte der Übersetzung versuchte Vereinnahmen Dantes als wechselweise christlich-nationalistisch-diffamistisches Werkzeug, wo im Original möglicherweise Teile kernlich angelegt zu sein scheinen: „In dieser Hinsicht ist Dante ein poetischer Zeuge, kein Überzeugter seines Weltbilds“ jedoch, so Filips. Das Journal ist mit vielen Links & Images unterlegt, ein Dossier beinahe.

Sandra Burkhardt erschafft eine kybernetisch-methodische Dichtung, Hauptversammlung „Hausputz“ als Korrespondenz einer Bienenstock-WG-Putzplankonferenz. Sie bedient sich Samples & Silbengewichtsberechnungen. Verspielt zwischen Zwang und Gesang, wie es beim Putz nur sein kann:

„Ja Reinigungsdienst! Servus!“

Der Datierer ist Jude Stéfans behutsame durcheinandergewirbelte Sammlung von jahresdatlichen Betrachtungen von Art wie: „96 ging der Winter im April zu Ende 97 im Februar“, mit oder ohne Bezug zum Schreibenden. Ein ergiebiges Format „von 30 bis 2000 langweilte ich mich“, als kluge Oszillation zwischen Aufnahme & Inszenierung, mit Lebensendmutmaßungen, die wie Gewissheiten herziehen aus „zu weit gegangen“, „Leibesübungen“, „sterbliche Seele zu beruhigen“. Mützenpeak.

Es folgt eine politische Rede von Miriam Rainer Festrede zum Hieronymustag, in der das Wirken des Übersetzer:innenpatrons in Syrien mit dem Heute zueinander in Verbindung gebracht wird, wie auch das Nichtwirken Geronimos als Übersetzer (für die falschen Hände), um die Unabhängigkeit des Übersetzens, beziehungsweise den grenzüberschreitenden eigenen Willen dieses Aktes gegen ihre Vereinnahmung & Bedienung als Werkzeug des Machterhalts von Istzuständen (mit oder ohne Literatur) in Stellung zu bringen. „Mit den Worten der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak ließe es sich auch so fassen: Krieg ist der allegorische Name für eine extreme Form der Unübersetzbarkeit.“

Zwei Zyklen von Jayne-Ann Igel, langes gedicht & Restlöchertango, folgen, ein ergebener resignativer Tonfall durchweg, in sich gekehrt. „kiefern im abwald“, „vorn die straße und hier der wildverbiß“ [...]

als ich zu laufen begann
passte kein schuh
dachte immerzu
barfuß über den onkel“

Die Texte weigern sich. Ihnen „stinken diese restlöcher“ aus der „bergbaufolgelandschaft“, „du hattest grus auf den wangen“, „dir bleibt nichts als der alltägliche abrieb vom leben“. Ihr Atem geht schwach, fast müde.

Ein Verzahn aus Thomas Schestag und Dante hebt an „il buono incantatore – der gewogene Verzauberer“. Schestags Wortschar ist ein Verwandtschaftsschwarm, im poetischen Essay gefangen. „Reimschiffchen“, „ein Wünschen [...] das an der Leere, einer Überfülle, Überflüssigkeit, Gefallen findet“. Das Auslegerboot bedient sich einer Herde an textoptischen Eingriffen, um einen „Schwellen“eintritt des kleinen Danteschen Gedichts zu erzählen. Ist das Textgrafitti? „Philologophilie“.

Mae Schwinghammer verwendet in Covids Metamorphosen Fetzen & Re-Konstruktionen aus eingepflegtem Ovid zu einer schwingenden kommentierten Setlist für den öffentlichen Raum. (Dieser Titel war eine Frage der Zeit).

„schillernde schlangen. Alles täterformen, alles jupiter.“
„boreas, der eisige wind. ein täter.“

Mütze 32, herausgegeben von Urs Engeler, Schupfart 2022

 

 

Ethik und Politik des Übersetzens Henri Meschonnic

 

Notfall / das Zeichen zerbricht am Gedicht Mit Ethik und Politik des Übersetzens liegt endlich eines der ersten Bücher Henri Meschonnics zur Gänze auf Deutsch vor. Es ist zugleich eine seiner letzten Publikationen (2004 im Original), die seine Hauptansätze griffig, diskutabel & pointiert sowie absichtlich wirr, aber mit viel Soul zusammenfasst. Auch wenn Meschonnic eine idiosynkratische Position vertritt, er ist einer der wenigen Dichterphilosophen, die explizit nicht heimlich Gedichte schrieben oder Philosophie mit Versen tarnten oder biederste Strophen aus Philosophie zimmerten – nein, Meschonnic sah sich trennungslos als Dichter, Übersetzer & Linguist, dessen Äußerungsform Poesie ist. Er trennte nicht zwischen wissenschaftlichen oder belletristischen Veröffentlichungen & wurde für beide gleichermaßen anerkannt, ausgezeichnet & gefeiert, es ist ein Werk fern jedweder Genrekonstruktion, was möglicherweise der allerwichtigste modernste Zug dieser Haltung ist.

Das Buch trägt bisweilen rüde oder gar unfreundliche Züge, Meschonnic, der nebenher die wohl exzentrischste akademische Frisur spazieren trug, scheut nicht kiebigste Klage oder direkte Angriffe auf Kolleg:innen, entwaffnet aber auch gerade damit. Sein Text performt die Message auf gesamter Linie, die nämlich neben seiner phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Rhythmus (Meschonnics Lebensthema: "Rhythmus ist die Bewegung des Sprechens in der Sprache.") darin besteht, die literarische Rede mit der gelebten wörtlichen Rede ineinszustellen, ein für alle Mal mit der zeichentheoretischen künstlichen Trennung in Formalien tabula rasa zu machen; Zunge produziert Text: basta! „Von meiner Warte aus gesehen stellt sich das Zeichendenken – diese allzu vertraut gewordene Ansammlung von Wissensgebieten – als durch und durch schizophrene Erscheinung dar, als schierer Wahnsinn, wohingegen alles Lebendige uns immer und überall vor Augen führt, dass die gewaltsam vorgenommene Trennung zwischen Form und Inhalt bzw. zwischen dem Körper und der Seele lediglich ein totes Gerippe hervorbringt.“

Meschonnic erläutert konkret in diversen Aufsätzen, ausgehend von seiner Tätigkeit als Bibelübersetzer (dies ein Werk lückenloser Poesie, dessen Rhythmus zu Anbeginn zugunsten von Religionsmissionen konsequent verfrömmelt worden sei), wie „das Werk die Nationalsprache hervorgebracht hat [...] Die Werke selbst sind Mutterwerke, und nicht die Sprachen Muttersprachen.“

Im Nachwort heißt es: „Der Übersetzer ist, das gilt für Celan wie für Meschonnic, dem Text, den er übersetzt, demnach in höchstem Maße verpflichtet. Diese Verpflichtung ist jedoch keine vordergründig technische, sondern in ihrem Kern eine ethische: Für beide bedeutet Übersetzen, sich als Subjekt zu einem anderen Subjekt ins Verhältnis zu setzen oder, um es mit Meschonnic zu formulieren, den zu übersetzenden Text als je einmalige forme-sujet (Subjekt-Form), als „maximale Subjektivierung eines Redesystems“ wahrzunehmen, à l’écoute zu sein und zu antworten. Das bedeutet aber auch, dass nicht nur in der Stimme des Übersetzers die Stimme des Textes vernehmbar wird, sondern auch umgekehrt in der Stimme des Textes die des Übersetzers mitklingt.“

Für Meschonnic ist das Gedicht folgendes:

„Ein Gedicht ist die Erfindung einer Lebensform durch eine Sprachform und die Erfindung einer Sprachform und die Erfindung eine Sprachform durch eine Lebensform.“
„Das Gedicht stellt die höchstmögliche Steigerung sprachlicher Intensität dar.“
„Das Gedicht ist die Modernität, die Modernität ist die Poetik, die Poetik ist die Poetik der Modernität. Diese bleibt in der Gegenwart gegenwärtig, sofern das Gedicht eine Lebensform in eine Sprachform verwandelt und eine Sprachform in eine Lebensform.“

Hieraus ergebe sich für seine Übersetzung wider der traditionellen (akademischen) „Ethik des Übersetzens“ („Verstehen sei Übersetzen und Interpretieren eine unabdingbare Voraussetzung.“) eine „Ethik des Übersetzers“, die an einem Ort stattfindet, an dem „Sprache und Leben zutage tritt.“ Explizit gerichtet gegen Heidegger u.a. mit ihrer „vorherrschende Vagheit im Denken“ gegenüber dem Gedicht & speziell der Gedichtübersetzung, „verächtlich gegenüber Alltagssprache“ hin zu einem nur noch phatischen (sogenannten literarischen) Sprechen, das abgetrennt vom Leben in eine zeichentheoretische Welt geflüchtet sei. Meschonnic fasst zusammen: „Die Ethik des Übersetzens besteht darin, die in einem Gedicht wirksam werdende äußerste Subjektivierung der Rede als System zu übersetzen. Alles andere fällt in die Übersetzung des Zeichens. Das Gedicht erhalten, da sonst die Übersetzung der Zersetzung anheimfällt [...] und anzuerkennen, dass sich der Sinnbegriff als ein erkenntnistheoretisches Hindernis erweist, wenn es um das Denken der Sprache geht [...] es geht nicht darum, die Einzelsprache zu übersetzen, sondern das, was das Gedicht mit einer Einzelsprache macht; für den Übersetzer besteht daher die Notwendigkeit, Rede-Äquivalenzen in der Zielsprache zu finden: eine Prosodie für die Prosodie, eine Metapher für die Metapher, einen Kalauer für einen Kalauer, Rhythmus für Rhythmus.“

Wuchtig phantastisch ist die Lektüre von Ethik und Politik des Übersetzens. Ob man aus ihr etwas mitnimmt? Bestimmt. Meschonnic rüttelt auf, läuft nicht in die Falle Theorie mit einer anderen Theorie zu bekämpfen. Der Schlüssel liegt in der Lesendenerweckung. Seine eigenen Beispiele aus der Bibelpraxis überzeugen nicht unbedingt, denn wie er selbst in Bezug auf Saussure rekurriert, dass „es in puncto Sprache nur Standpunkte gibt. Keine naturgemäße Wahrheit“, kann das eigene poetische Werk nur vorgetragen, nicht aber legislativ verwendet werden. Ein Gedicht bleibt Angebot, eine Übersetzung desselben muss es ebenso bleiben. Mehr von Meschonnic ist auf Deutsch zu wünschen, vielleicht als nächstes jene Riesenbiografie des Rhythmus. Die einseitigen Derridanancyhamachercixousjahre hatten von Anfang an einen mutigen Realdichter.

Meschonnic Ethik und Politik des Übersetzens: Matthes & Seitz Berlin 978-751803496 256 Seiten

 

 

Kinder der Sphinx Eberhard Häfner

 

zwischen belletristen schicksalen Zum achtzigsten Geburtstag von Eberhard Häfner, Dichterveteran der prä- und postprenzlauer Szene, „Wunden deiner Okarina“, gibt Tom Schulz im Verlagshaus Berlin eine umfangreiche Werkschau heraus. Gedichte aus Buchveröffentlichungen an vielerlei Ort, Verstreutes und zudem Erstveröffentlichungen – spannend. In diesem Format widerfährt den Gedichten aus 40 Jahren etwas Kumpelhaftes, das ihnen in der Tat an sich bereits anhaftete. Kumpelhaft in allen Schattierungen des Worts, es sind keine ewiggedrechselten Akademieschunkler, andererseits auch keine Wutrotzverwirbler, sie sind an erster Stelle ehrlich. Häfner ist früh in seinem eigenen Register drin, er schreibt schnell, beziehungsweise die Gedichte selbst lesen sich schnell, sie rasen geradezu. Innehalten kommt selten vor, wenn dann an außerordentlich treffenden Details, an denen plötzlich alles zusammenfließt, über sich hinausweist. Manchmal wünscht man sich mehr davon, oder auch mal ein Meisterwerk (selbst wenn das wie immer ein seltsam eingestellter Radar ist). Häfner hantiert oder genehmigt sich ein permanentes Kalauersprachmaterial, „aber manchmal bin ich pyramüde“, das zwar nicht grundsätzlich darüber stolpert, dafür ist er viele Nenner zu schnell, aber auch nicht wirklich drüberhinaus zu kommen gewillt scheint, „im getto der gebügelten sprache/ war ich bei den schamanen / der oberarsch“. Dazu gesellen sich eine Menge, man könnte sagen avenidas-Momente, die viel eher die Waage umkippen lassen, trotzdem beeindruckt auch genau die solitäre Sturheit des ganzen – man braucht auch die Möchtegern-„Hugh“ (pardon) Blicke gar nicht abnicken, um in Häfners Universum Kinder der Sphinx ganz weiche stimmtarierte Situationen zu finden, die das Rätsel sehen; gerade auch in der verslichen Kurzatmigkeit, beziehungsweise ihrem Hetzen, „wir verzehrten Äpfel / nicht größer als Erbsen“. Überhaupt ist die Flüchtigkeit ein Thema, nicht nur auf Papier. Häfners Gedichte(lebens)schau zieht überdannen: Ein grundsätzlich skeptischer Blick auf das (literarische) Monument, der pochende Küchenreisende.

„müsste ich mich entscheiden, würde ich
entschieden ablehnen, mich anzulehnen“

Tom Schulz‘ Nachwort ist essentielle sympathische Ergänzung zum Textkorpus, eine Erdung. Die zurückhaltenden Illustrationen von Marlen Melzow fungieren als Trenntore zwischen den Abschnitten, von denen Determinanten proben den Aufstand noch am stärksten experimentellen Charakter aufweist. Häfner lässt hier seine Sprache in jargonkodiertes DadaMundartRück preschen, das rein körperlich gefühlt, die richtige Distanzbalance zum Vorherigen aufbaut. Kinder der Sphinx hat alles, was eine Schau hat, nämlich Momente (Kipp & Zoom), Reibung & Höhepunkte.

Häfner Kinder der Sphinx: Verlagshaus Berlin 978-3945832493 328 Seiten

 

 

Teer Albert Ostermaier

 

stoss / stangenlippen Der neue Gedichtband von Albert Ostermaier heißt Teer. Er scheint verwandt Marcel Beyers Graphit in seiner Hardcover-Aufmachung. In fünf Abschnitte geteilt, die unterschiedliche Qualität aufweisen, legt er fulminant los, mit Gedichten (herzschatten), die aus Worten im Daueranschluss bestehen, ein Autoradioabschnitt. Sie sind gleitend lesbar, wechseln ineinander über – fast ein Telegrammstil. Kurze Notate fügen sich wie Ziegel zu Bauten verschiedener Größe und Zwecke. Referenzen weben sich ein (Delon, Nouvelle Vague usf.). In der völligen Verknappung auch durchaus aus dem Kitsch gefischte Kuben, die die Verse wiederum offenhalten, nicht unbedingt Hermetik anheimfallen lassen: Umherfahren, ganz konkret.

„der Schnee fällt als fiele
er mir ein und nicht die
Kälte der Worte die fallen
eins aufs andere [...]“

Der zweite Abschnitt ist im Jetzt, übernimmt klares Quarantänevokabular wie in Lunge, läuft dabei bisweilen ins Übernommendasein rein. Wohingegen sich der darauf folgende Abschnitt etwas unglücklich an Thomas Mann & Deutschland abarbeitet, die hervorragende Versarbeit aus herzschatten landet in weniger durchgearbeiteten denn durchgeredeten Ja aber-Passagen zu Theaterarbeit, in denen sich das grafische Textbild gänzlich wandelt. Schließlich Woyzeck-Einarbeitungen, die wieder etwas Fahrt aufnehmen, gut zusammengehen wollen. Späte Gedichte zu Fotografien von Maya Mercer schließen, die Fotos jedoch nicht mit abgedruckt, was etwas von einem Versprechen hat. Viele gute Spracharbeiten in Teer, doch auch Durchwachsenes ergeben ein aufgewühltes Ganzes, wie Organe unterschiedlich gut in Schuss in diesem einen Körper.

„morgens rennen hab ich
den tag verpennt und jeder
der mich kennt der kennt mich
bald nicht mehr und jeder
der mich kannte kann sein
das bin dann ich“

Ostermaier Teer: Suhrkamp 978-3518471838 119 Seiten

 

 

Nach Amerika und zurück im Sarg Susan Taubes

 

Eine Kuh hängt in der Luft / die Ripper-Mädels alles Gestalten aus einem verlorenen Text“ schreibt Susan Taubes in ihrem Roman Nach Amerika und zurück im Sarg, ihrem einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten – wenige Tage nach der Veröffentlichung schied Taubes freiwillig aus dem Leben. Diese Tatsache lässt das Buch nicht ohne sie lesen. Handelt es sich um einen literarischen „Abschiedsbrief“, wie Leslie Jamisons nachgestellter Essay andeutet? Vermutlich schon, & nur im Zuge dieses Wissens ergibt das Buch, mithin nicht fiktiv oder zumindest nicht ausschließlich, einen Zugang zu einem ansonsten hermetisch chamäleonhaften Text, dessen Genre wie auch Perspektiven, sich permanenter Wandlung unterzieht („Sammelsurium“, L. Jamison), so als ob er vor sich selbst fliehen würde. Wiewohl stilistisch sicher & komplex gestaltet, scheiterte der Roman damals (1969) an zeitgenössischer männlich gelesener Kritik, fiel als „Frauenschreibe“ durch. Da er sich explizit zudem mit Scheidung und Lebenshaltung in Richtung Wahlverwandtschaft bewegt (eng. Original Divorcing), wie Susan Taubes selbst, die beruflich im Schatten ihres Mannes Jacob Taubes stand, mag seine befreiende Aufmüpfigkeit viszeral allerdings an der richtigen Adresse angekommen sein.

Ausgangspunkt ist der (Unfall-) Tod der erzählenden Protagonistin / Autorin Sophie Blind. Ein Sterbepuzzle wirft seine Wellen aus, rückwärts, bis in die Kindheit in Ungarn: „das Gefühl, wie mein Kopf vom Rumpf gerissen wird, lebt noch nach. Mein Körper wächst ins Unermessliche, Billionen von Zellen sind plötzlich freigesetzt, dehnen, beschleunigen, drängen sich jubelnd, eilen zu den sieben Toren von Paris hinaus [...] die Finger meiner ausgestreckten Arme tauchen ein in die Wälder von Boulogne und Vincennes.“

Nadine Millers Übersetzung legt die wohl beabsichtigten Unausgewogenheiten des Romans frei. Dessen Aggregatzustände fluktuieren. Und blendet man alles außerhalb des Textes stehende aus, bleibt nicht viel zum Festhalten übrig. Das könnte man seine Schwäche nennen, vielleicht wäre eine konsequente Einlösung eines der vielen gegebenen Versprechen literarisch interessanter, aber, so viel ist klar, es wäre nicht stärker im Sinne der Selbstbehauptung, der Stimmennutzung. Es gibt einen Grund für dieses Buch (oder mehrere), Susan Taubes hat es genau so geschrieben. Es ist ihr Statement, das über die Literatur hinausweist. Ein Vermächtnis. Die Identifikation ihrer sterblichen Überreste (aus dem Meer) führte übrigens, so aus dem Essay zu erfahren, ihre enge Freundin Susan Sontag durch, die sich ihr gewiss verwandt gefühlt hat.

„Die Kinder haben den Sargdeckel mit dem Stiel eines Gartenrechens aufgestemmt. Jetzt klettern die kleinen Mädchen darin herum. Plötzlich kommt aus dem Sarg ein Kopf hervor, der eine Ansprache hält: „Die Frau ist zum Teil weniger ein Mensch, zum Teil mehr als ein Mensch und zum Teil Mensch.“

Taubes Nach Amerika und zurück im Sarg: Matthes & Seitz Berlin 978-3751800471 372 Seiten

 

 

Überzusetzen Felix Philipp Ingold

 

Durch Minderung Mehrwert Der immens produktive Autor und Übersetzer Felix Philipp Ingold legt im Ritter Verlag einen neuen Band vor: Überzusetzen, der sich mit gesammelten Versuchen, Gedanken & Theorie zum Übersetzen aus seiner eigenen langen Tätigkeit heraus beschäftigt. In dem Band ist auffällig, dass manche Texte, besonders die essayistischen konzis, gutbeobachtet & bisweilen grandios formuliert, die eingeschobenen Proben aufs Exempel jedoch von schwankender Qualität sind. Es gibt geniale Übertragungen von zum Beispiel John Ashbery und eine fantastische Robert Kelly-Übersetzung, denen gegenüber eine formalistische, an Leistungssport erinnernde anagrammatische Akrostichon-Dichtung über den Namen GUILLAUME APOLLINAIRE die Frage nach Gedichtwert jenseits der wissenschaftlichen Frage stellt. Die Gedichte werden „gewonnen“, wie es heißt, aber haben sie auch gewonnen? Ähnliches gilt für Übertragungen von Shakespeare-Sonetten, die experimentell über russische Erstübersetzungen zweitübertragen worden sind, deren Zwischenschritt jedoch, die Interlineare nämlich, ungesehen eine tatsächliche stimmlich-emotionale Qualität aufweisen, bevor sie in Ingolds Wortstadion zum Einlaufen gebeten werden, wo sie als Form nach ihrer Seele suchen. Dazwischen pikieren sich einige Texte über Zanzotto und Plath-Übertragungen, wie auch Emily Dickinson, um sie partiell zu verbessern. Die Kritik mag jeweils Hand und Fuß haben, Ingolds Argumente sind einleuchtend, doch die Vorschläge setzen seine zuvor postulierte Ganzheit vom „Übersetzen“ (die als der eigene Ansatz Priorität genieße) außer Kraft, indem sie einem Detail seine Unstimmigkeit vorwerfen, nicht aber dessen Platz im ganzen Stimmwerk berücksichtigend würdigen.

Hervorragende Texte liefert Ingold beim Betrachten der eigenen Rolle als Permanent-Übersetzer zwischen dem „Deutschen“, dessen dialektalen Ausprägungen, Mündlichkeiten vs Schriftlichkeiten im Schweizer Raum, wie überhaupt das meiste sehr erhellend ist, was er über die Praxis zu berichten weiß. Er gesteht seine Tendenz, die sogenannten „Fehler“ des Originals zu korrigieren, unter jenem ganzheitlichen Ansatz. Gleichzeitig scheue er nicht, mit Luhmann, die „Welt adäquat auszudrücken“ durch sprachliche Polyvalenz. Seine experimentellen Übersetzungsansätze stellen die Frage nach Autorschaft, nicht nur inhaltlich, sondern in formaler Gestaltung, wie zum Beispiel unterlegte Rhythmen, Phoneme. Interessant die an dieser Stelle extreme russische Praxis („aus Rilke“ usf) wider die Zensur, Übersetzungen zu heimlichen bis offensichtlichen Originaltexten zu machen, indem mit ihnen völlig neutextlich verfahren wird durch Weglassen, Hinzufügen, Kompilieren & Stimmliches Neuabmischen. Gelungene Beiträge sind weiterhin die Essays zum Wesen der Verknappung, zu Pound und Eva Hesse, sowie über die sprachversessenen Derridismen Derridas, dessen innovative „Kofferwortverwendung“ ebenso unter die Lupe genommen wird, wie kindliches Sprachvertrauen in assonantische Verwandtschaft, anagrammatische Wahrheit.

Überzusetzen ist ein saftiges Buch, die Mehrheit der Texte darin neugierig & licht, nicht zu sagen scharfzüngig, Akademismen in der Minderheit, wenn auch etwas aufdringlich selbst anmoderiert.

Ingold Überzusetzen: Ritter Klagenfurt 978-3854156215 326 Seiten

 

 

Aliens & Anorexie Chris Kraus

 

Zoom Golly Golly Immer wieder lässt sich Chris Kraus von ihrem Schreiben davontragen. In Aliens & Anorexie ist es ähnlich wie zuvor bei I love Dick ihre Fähigkeit, grenzenlos in Seele herumzuassoziieren, die einen so persönlichen wie weltgerichteten Text erzeugt. Fast wie in einer psychotherapeutischen Session, oder mehreren hintereinander, verfasst Kraus einen Wirbel aus Vergangenem & Abstrahlungen, der von ihren künstlerischen Konstellationen zusammengehalten wird. Doch keinesfalls ruht sich dieser Text aus oder macht sich, beziehungsweise seine Autorin zum Schauobjekt, um nun kokett in Fame abzuwarten. Stattdessen entwickelt dieses Schreiben weiterzudenkende Verknüpfungen, emotionale Parallelen, besonders zu Simone Weil & ihren ureigenen Termini wie z.B. „Entschaffung“, die Weil nicht nur beschrieb, sondern sie sich unter ihrer eigenen Entschaffung selbst schrieb.

Chris Kraus hat ihren luziden, frei flottierenden Text zwischen Magersucht, S/M, Ulrike Meinhof, Aldous Huxley & außerweltlichen Erfahrungen angesiedelt. „Sie heizte und putzte nicht. Es war eine glückliche Zeit. Sie lebte von Kakao und Adrenalin [...] Essen infrage zu stellen bedeutet, alles infrage zu stellen [...] Sie war eine performative Philosophin.“ Das Sprunghafte Erzählen treibt Kraus auf die Spitze mit Verflechtungen um ihren eigenen Film Schwerkraft & Gnade, dessen Promo & Produktion, den sie nach Weils Klassiker benannt hat, und der zudem gegen Buchende in einem separaten Kapitel auserzählt wird. Sie landet über Huxley („er ist kein manipulatives Mädchen“ und werde im Gegensatz zu Anorektikerinnen ernst genommen) und einigen Biegungen auch bei Philip K. Dick und dem „phylogenetischen Erinnern“, das ebenso gnostisch verfahre wie Weils Methoden der Erkenntniserzeugung, „„Die Informationen, die uns übermittelt werden, hypostasieren wir als die phänomenale Welt ...“ Durch eine Techno-Transmigration, die symbiotisch von den Lebenden absorbiert wird, leben Gnostiker ewig.“ In Weils Anorexie erkennt Chris Kraus jenes performative Philosophieren wieder, das, ob gnostisch, meskalininduziert oder sonstwie herbeigeführt, ernst genommen werden sollte (besonders von Männern) als Mittel, um weltliche wie außerweltliche Erfahrungen aktiv zu durchleben – mithin ein genuiner Akt Experimentieren, wie es Kunst urselbst zusteht.

Obwohl kaum 250 Seiten lang, gelingt Chris Kraus ein großer Wurf, der längst nicht abgeschlossen ist mit dem Buchdeckelzuklappen. Ein Mythos von Buch, federleicht und bleischwer zugleich.

Kraus Aliens & Anorexie: Matthes & Seitz Berlin 978-3957579362 256 Seiten

 

 

die betrachtenden Wiebke Kowal Stefan Wartenberg

 

tatort des gemäldes Im Leipziger Lubok Verlag, der Künstlerbücher produziert, erscheint unter dem Titel die betrachtenden, eine Kooperation zwischen Zeichnungen Wiebke Kowals und Gedichten Stefan Wartenbergs. Verspielt taucht Wartenbergs Lyrik in diverse Sprecher:innenrollen, agiert als Textäußerung „alltagsgewandhaus“, „wie das blaue kaugirl“, „der geleehrte“, „himbeerturtlesex“, „hände wegkarieren“ auf die hell-genauen Farbstiftzeichnungen Kowals, die Besucher:innen einer Galerie oder eines Museums zeigen, und zwar aus der Perspektive des Kunstwerks von z.B. an der Wand. Was zum Effekt hat, dass die Leser:innen selbst betrachtet werden, wie Objekte, selber aus dem Auge des Gemäldes oder Skulptur o.ä. einen Blick zurück werfen können auf die betrachtenden. Die Bestandsaufnahmen kreisen um ein vorangestelltes she’s got the look & vs, mit einer Wartenbergschen Schlussgrätsche, das bin ich selbst. Formal sensibel gestaltete Gedichte gesellen sich „formal“ unterschiedlichen Besucher:innenphänos gegenüber, die sich stilistisch geschlossen geben & durch Kowals Gestaltung zu einer Sichteinheit gehören. Wo Wartenbergs Reaktion rhythmisch prägnant saloppiert, manchmal ungeniert bis ins Spirelli silbt, bleibt Kowals Identifizieren in stets derselben Warte, ermöglicht so die Unhierarchie des Gezeigten.

Entstanden zur lock-down-Zeit, ist der Galeriebesuch folgerichtig ins Buch gewandert, „und wenn die brille ganz weit unten auf der nase sitzt“. Der Dialog beziehungsweise Kurs von Text auf Zeichnung hält das ansprechend aufgemachte Buch zusammen. Es macht Freude, eigene Erwartungen beim Lesen & Betrachten aufzubauen, in den persönlichen Dialog zu treten. Über einen gothisch gelesenen Besucher schreibt Wartenberg: „manchmal hilft knoblauch / und manchmal auch nicht / und manchmal sieht die fledermaus / auch irgendwie ganz niedlich aus / manchmal schwebt über den türen schwer / die angst der eignen unsterblichkeit“. die betrachtenden ist eine freundliche Kooperation, beide Materialienmedien bleiben neugierig-offen.

„die löcher flogen herrlich
bedeutungslos aus dem käse
und unsere feindschaft pflegten wir sorgsam“

Kowal Wartenberg die betrachtenden: lubok 978-3945111697 46 Seiten

 

 

Entweder ich habe die Fahrt zum Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt Oswald Egger

 

Auf dem Weg zum Künstlerbuch muss Oswald Egger an Oswald Egger vorbei. Auch wenn in seinem neusten Werk, dem immens aufwendigen Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt, einem Prosa-Aquarell-Folianten, einige gutgelungene Abbildungen von Windungen, es könnten Kelpwedel oder der Lauf des Tagliamento von oben (beziehungsweise ein Lauf, denn dieser Fluss ist bekannt dafür, seinen Lauf jedes Jahr zu ändern) sein, vorkommen, die gewollt enervierenden Nature-Writing-Exzesse Eggers wollen Sprache besitzen. Statt etwas zu zeigen, lässt sich Egger alles durchgehen. Es entsteht ein selbstindulgentes Schwelgen in besitzergreifenden Zuschreibungen eines prosaischen Ichs, das rhythmuslos wie hemmungslos die immergleichen Spulungen von Vorkommnissen zu fassen meinen muss. Die wenigsten Passagen sind gelungen in einem herausstechenden Sinne. Vielmehr ist es so, dass anders als im vorherigen Farbenbuch Eggers, wo es tatsächlich ums Zuschreiben im Sinne eines künstlerischen Nachschlagewerks geht, hier ein überproduziertes Wirschen aus Ichwilltext und vorgeblich zartem Aquarellieren übersehen hat, was Kunst/ Sprachkunst im besten Sinne kann: Neugierig bleiben, das Rätsel beiläufig bauen, aufs Neue stoßen. Egger ist an sich selbst gemessen hier keines von allem, sondern untergegangen, ob im Traum oder offenen Auges. Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt ist das dünnhäutige Angebot eines Magiers. Für den weiteren Weg wünscht man sich Action-Painting, Kookaburras, Rootsmuzak.

„Es ist so erstaunlich als schrecklich und für mich erniedrigend, welche Übungen und Experimente mit meinen Ohren und mit meinem Körper seit beinahe zwanzig Jahren gemacht wurden [...] Meine Gedanken durchwachsen stets die Sache; sie gehen hin und her, als ob eine Feder, fiederspaltig eingeschnitten, vor meiner Stirn hin und her flatterte.“

Egger Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt: Suhrkamp 2021 978-3518429778 280 Seiten

 

 

Mütze 31

 

Unsere weit vorgerückte Ohnmacht Mütze 31, eine Lyrikmütze, beginnt und schließt als Buchstützen mit dem Gedicht Vertikale Realitäten bzw. Realitete vertikale der albanischen Dichterin Luljeta Lleshanaku, worin steht: „Du hast meinen Morgengruß gehört / wie einen stampfenden Elefant auf einem Klavier / oder die sich auflösenden Säume an der Jacke meines Vaters.“

Ein Konstatatgedicht von Stanisław Barańczak folgt, das Dagmara Kraus aus dem Polnischen übersetzt hat, Aufrücken, die „Ohnmacht“ unter einer Reihe „Hasswürstchen“ wird gezeigt, weit vorgerückt, und wie es scheint prophetisch, Barańczak starb 2014.

Ein Almanach zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik füllt die nächsten Seiten, wobei Bertram Reinecke zunächst mit barock-zusammengesetzten cuts zu Gedichtskulpturen unter dem Titel 2 Preisgetichte beginnt.

„Die Thränen mischen sich bey meiner Dinte eyn.
Wo könt ich prächtiger als da verwahret seyn?“

Konstantin Ames verfasst eine dichtschuldige Silbenbeatbox, mit Hochwut soliert:

„Janz Zapf Hopf Pick
Bach Elze Gräf Danz
Manz JUNG Drux Gnüg
Hell Bail Bánk ZAHL „NEIN! Du sollst die Stifte nicht essen!“

Wie als Antwort liest sich eine längere uncreative-writing Exposition von Hannes Bajohr aus Lernprozesse, die eine Exegese beziehungsweise einen Querschnitt deutscher Gegenwartslyrik (gefunden auf lyrikline.org) herausstellt, sozusagen eine weitere Lyriktabelle formt.

„Ich machte mir einen Knoten in den Leib
Die Beine eingehämmert und mit den Füßen in den
Hals hinein verkippt
Wie in viel zu großen Mücken.

(So daß diese Mücken mausen)“

Das Programm, das dichtet, antizipiert und keine Ahnung im herkömmlichen Sinne hat, eine Chance, die Bajohr ausspielt. Dicht auf kommen Gedichte von Thorsten Krämer, betitelt Kämmerlein obscura, die wieder unprogrammiert im analogen Sinne sind, doch sind auch sie programmatisch. In scheinbar leichtfüßigen Versen über Kopernikus und Tinte in der Gießkanne, geht es Krämer in Wirklichkeit um ein Halbzitatrecycling, in einer wie abgespulten Hochsprache beim Schlafwandeln, „Die Lust, das sind die anderen“.

„[...] Zerstreuung ist das neue Böse, du sollst nicht mein Selbstgespräch stören.“

Christian Steinbacher eignet sich Verse aus Hölderlins Blödigkeit an, „gerissen“ wie er schreibt, um sie in Oden zu verbauen. Ziemlich wirsch, „Lanzarote storniert, bleibt’s halt beim Kämmerchen“, ein Sprechen gegen die Form.

Der schwedische Lyriker Magnus William-Olsson, den unlängst Monika Rinck unter Hypnose übersetzte, wird hier von Peter Zimmermann, mit Nichts ist jemals zu spät, zweisprachig präsentiert. Ein beeindruckendes, vielschichtiges Nebularium, eigenartige Sequenz, bei der sich Zweifel so sehr reproduzieren, bis sie blühen in einem „Zeigefingerwind“. „Das gelbe Frühlicht zog / dich wie die Nadel einen Faden durch die aufgereihten Augenblicke. Was / gibt es außer dem, was ist?“ Menschen, die auf dem Weg ins Exil „in die Irre gehn“, „untergehn“, „ausgeblasenen Herzens“. Zwischen Antiken, Inquisition, Schiffen verknüpft William-Olsson hier wie ein dunklerer Svein Jarvoll historische Gefühlsebenen.

„Wen also, Magnus, rufst du jetzt als Zeugen der Wahrheit an?“

„Es gibt / eine Nacht in der Nacht“, „die Zeit, da Spindoktoren [...] so taten, / als holten sie den Leuten Steine aus den Schädeln“.

Christian Filips übersetzt Dantes letzten Inferno-Canto neu für ein zeitgenössisches „Dantegastmahl der Diebe“ namens Lectura Dantis in 33 Gesängen, bei dem eine unendliche Sprachelegenaz auffällt ebenso wie Sicherheit in inhaltlicher Fest- und Ernsthaftigkeit. Dante und „meister mir“ Vergil begegnet die Flugmäusemode, und schließlich der „richtige ausgang“:

„Ich starb noch nicht und war am leben kaum;
jetzt denk dir selber, wenn du denken kannst,
was mit mir war, von beidem schier beraubt.“

Mütze 31, herausgegeben von Urs Engeler, Schupfart 2021

 

 

U Wsewolod Iwanow

 

Ich würde lieber noch ein Kind von Ihnen entbinden wollen als einen Roman Mit U liegt einer der unbekanntesten großen Romane Russlands ungekürzt auf Deutsch vor. In der Friedenauer Presse erschienen in der starken Übersetzung von Regine Kühn, mit einem Licht werfenden Nachwort von Alexander Etkind. Tatsächlich ist Wsewolod Iwanow, Zeitgenosse von sowohl Gorki als auch Bulgakow, ein schwieriges Thema. Als Autor mit einer „üblichen“ Laufbahn allerlei Jobs und Überlebenshaltungen geriet er durch sein frühes folkloristisches Schreiben in eine Art Antipakt zu Bulgakow, Charms etc und schließlich an die Spitze des Stalinsystems als oberster „Literaturingenieur“, der über Zensur und Aufstieg bzw. Abstieg (vermutlich auch Schlimmeres) der gesamten sowjetischen Textproduktion höchstpersönlich entschied. Dementsprechend unkünstlerisch (und unter genauester Beobachtung) stand sein eigener literarischer Output während dieser gesicherten Existenz. Der heimliche Roman U wie auch Der Kreml wurden von Iwanow absichtlich „für die Schublade“ produziert, wie es heißt, ohne Chance, jemals zu Lebzeiten irgendwo veröffentlicht werden zu können.

Es sind inselartige Satiren ohne jeden Bezug zu irgendgearteter Öffentlichkeit. Sprachklug, aber nicht gefühlsklug. U zu lesen, bedeutet sich auf eine regelrechte Tour de Force der Unlesbarkeit einzulassen. Wir sind keine Schubladen! möchte man ausstoßen. Nach einem witzigen Beginn mit Fußnoten am Anfang, ohne Textbezug selbstverständlich, einer Menge Subeinleitungen, Vorspielen geht die Farce um einen Grafomanen und verrückten Psychoanalytiker los, um in einem um sich greifenden Strudel von erzählerischen Borsten und Widerspenstigkeiten zu landen, der nicht enden will und wie das Gegengewicht dieser von Zensur, Einschränkung und Unterdrücktem beherrschten „Autoren“karriere rund um das Haus Nr. 42 wirkt. Das Wichtigste an U ist die Freiheit (in der Schublade). Die syntaktischen Rhythmusschwankungen, Abschweifungen und Erzählkapriolen zwischen Rakete und Stagnation sind kein leichtes Unterfangen. Iwanow „stürzte sich“, wie er selbst schreibt „grundsätzlich auf den Wirrwarr in meinen Gedanken.“ Etwas zum Sich-drauf-Einlassen, im Rahmen von special Interest.

Iwanow U: Friedenauer Presse 2021 978-3751806107 560 Seiten

 

 

No Art Ben Lerner

 

Zerhawk die Luft Steffen Popp (mit Monika Rinck im dritten Teil) übersetzt das bisherige lyrische Gesamtwerk von Ben Lerner, nun in einem schmucken Suhrkampband zweisprachig als No Art erschienen. Es ist gewaltig, in jeder Hinsicht. Das Spezielle an Lerners Lyrik, die akademisch-parodistische Haltung, bringt die Übersetzung hervorragend rüber. Wäre nicht Popps einfühlsames Nachwort und vor allem die Erläuterungen zu speziellen exemplarischen Stellen, die gesamte Dimension „Amerikana“ fiele wohl nur den Ultraeingeweihten auf. Lerner verarbeitet eine unglaublich weit verästelte Menge an Zitaten, abgewandelten Evergreens aus Werbung, Sport, Politik, Medien, Geschichte. Kaum ein Vers ist nicht auf viele verschiedene Arten lesbar, oft als bittere wie brainy Kommentare auf (schwierige) US-amerikanische Rituale seit und aufbauend auf die Ära Reagan, „eine Kultur, der es an einem Begriff von Mangel mangelt.“

Tatsächlich ist allerdings die neugierige, spracherforschende, nicht zu sagen klingende Seite von Lerners Lyrik nicht unbedingt übermäßig ausgebildet. Lerner betreibt fast immer ein Spiel mit Vorbildern. Theorien, Akademismen, lyrische Techniken (Sonett usf.) werden benutzt, zu seinem Startpunkt gemacht, geritten. Dementsprechend selten geht Lerner ins Experiment, vielleicht handelt es sich überhaupt nur theoretisch um Lyrik, das Meiste bleibt vorherbestimmt und (komplex) inszeniert. Einzig im dritten Band, dem Mean Free Path, wird durch Cut-up Mittel ein freier Versanschluss gesucht und (virtuos) angewandt.

Ein Hauptinteresse Lerners besteht sicherlich im Verschränken von physikalischen Bewegungsmustern (wie Lichtenberg-Figuren bei Blitzen, Doppler-Effekte des Schalls) mit lyrischen Verfahren, hin zu politisch aufgeladenen Entitäten – ein Strukturtransfer. Manchmal gerät es etwas schlaumeierlich, ein „Wrestling der Themen“, schreibt Popp, doch die Aufrichtigkeit in Lerners Texten überwiegt bei weitem das Humorige etwaiger Debattiersucht. Popp provoziert bei seinen Übertragungen immer wieder überraschende Entscheidungen, („Lösungen, die von keiner Übersetzungstheorie gedeckt sind“), man könnte auch sagen, er klebt an Lerner, ein wenig erdrückt von dessen Zitatehochhäusern. Der wesentliche Aspekt in ihrer zehnjährigen Zusammenarbeit (und „massenhaften Skypings“) ist das unendliche „Zusammenarbeiten“ von Original und Übertragung, das nun vorliegt. Auch wenn es viele Fragezeichen gibt (wie immer bei derart ambitioniertem Material), besitzt No Art Klassikerpotential.

„Eines Tages wird man einen Lehrstuhl nach mir benennen und elektrifizieren.“

„Kein Ort, kein Land, kein Freund – nur schaft.“

„Es ist schwer, zwischen dem Einsturz der Türme
und dem Bild der einstürzenden Türme zu differenzieren.
Der Einfluss von Bildern ist oft größer als der Einfluss von Ereignissen,
wie der Film von Pollock beim Malen einflussreicher ist als Pollocks Gemälde.“

„ALS WIR IM ABFALLCONTAINER DER KLINIK Augen fanden, entschieden wir, den krassesten Schneemann aller Zeiten zu bauen.“

„Es fällt schwer, die Musik nicht persönlich zu nehmen.“

Lerner No Art: Suhrkamp 2021 978-3518429914 512 Seiten

 

 

Enzyklopädie der russischen Seele Viktor Jerofejew

 

Ich liebe Tafelrunden, die schief gehen „Die russische Geschichte besteht mehr aus Witzen als aus Chroniken.“ Russen seien „Meister des Ekels, lange vor Sartre.“

„Der Russe hofft schon auf gar nichts mehr. „Auf gut Glück“ ist veraltet, ungefähr wie „gnädiger Herr“.“

„Die russische Gastfreundschaft ist von ihrer Mission egalitär. Alle im Aufstoßen gleichmachen.“

Diese und viele weitere vermeintliche Sinnsprüche, Sprichwörter, Miniaturen und Bruchstücke eines Narrativs bilden den in den Jahren 1997-1999 verfassten Roman Enzyklopädie der russischen Seele von Viktor Jerofejew, aufsehenerregend zynisch, widerständig und schwer zu erfassen. Die Melange aus Satire und bitteren Zeitgenossenkommentar verfranzt sich absichtlich in Zuneigung zur „Rus“ und offener Ablehnung des Staatsapparates namens Russland, ähnlich Jerofejew selbst, der nicht ins Exil geht und doch unter verschärfter Beobachtung steht. „Ich bin kein Ausländer im eigenen Land, aber ich bin auch nicht sein plattgemachter Bürger.“ Es taucht Gregory Peck auf, als seltsamer Lotse, vor allem der Graue, eine eigenartige halbdissidentische Figur, die gewalttätig, „umgeben von trüben Leuten“ als eine Art Punk oder Mr Bungle tut, was man nicht sollte.

„Guten Tag! Warum grüßen Sie nicht?“

„Keine Lust.“

Häufig sind die Geschmacklosigkeiten zwischen pathetischen Anmerkungen versteckt, Misogynie mit Ausgestelltheit verkokettiert, dann wiederum glasklare politische Aussagen auf den Punkt gebracht, traurig, zum Resignieren. Jerofejew reibt sich ab auf der Suche nach etwas, das sich am Ende als konturlos herausstellt, obwohl es vor Details strotzt – zum Teil sich widerspricht. Sein wütendes zerrissenes Buch gegen den „Scheißegalismus“.

„Russland vergisst man nicht. Alles dort ist schlecht, aber nicht einfach schlecht, sondern auf wunderbare Weise schlecht.“

Geschichte

Nicht ein einziger Sonnentag.“

Jerofejew Enzyklopädie der russischen Seele: Matthes&Seitz Berlin 2021 978-3957579522 302 Seiten

 

 

Fern von hier Adelheid Duvanel

 

Menschenböller Kürzlich hat der Limmat Verlag das gesamte erzählerische Werk von Adelheid Duvanel herausgebracht. Eine Fundgrube. Die Basler Autorin, notorisch unter dem Radar eines sogenannten Marktes, hat von den 60er Jahren bis zu ihrem Tod 1996 kontinuierlich veröffentlicht, prinzipiell genau einen einzigen Typ Text, den sie zu Lebzeiten in verschiedenen Einzelbänden unter anderem bei Luchterhand publizierte. Man könnte vielleicht konstatieren, dass Duvanel zwanghaft die gleichgute Literatur schrieb. Ihre Textform, die extrem kurze Miniatur, fast durchgängig eineinhalb Seiten lang, folgt dem stets gleichen Schema mit jeweils überraschenden Variationen. Manchmal erstreckt sich die Schilderung aus dem Leben von Randexistenzen – alle mit Namen, schon in der ersten Zeile genannt, nie wiederholt – auch auf bis zu fünf weitere Buchseiten. Ihre Texte sind wie ein Ritus, sie verhandeln glaubhafte Biografien in einer surrealen Sprache, die als Ausweg erscheint. Die Themen sind Gewalt, Drogensucht, Psychosen in Verbindung mit dysfunktionalen Bindungen, dargeboten in einem Reigen von Klischeeinteraktionen, die, wenn sie nicht die Realität so treffend abbilden würden, eigentlich als Parodien durchgingen. So sind Lachen und Hals, der sich dabei verschluckt, in Fern von hier nicht zu trennen. „Ihr Herz kopiert die Schläge des Balls gegen das Garagentor: bumm, bumm.“

„Wie immer, wenn der Wind weht, konzentrierte er sich vor allem auf mich; meine Kleider flatterten wild, während die Kleider der andern Leute kaum zitterten.“

Mit Vorliebe beschreibt Duvanel verknüpfte Details oder Wetter, „Sonne, die einbusige Mutter“, um zügig zu ihren Protagonist:innen zu kommen, wie z.B. Der Junge mit dem Fernrohrknochen namens „Och“. Sie schreibt an einer Stelle: „ich hatte nicht nur AUSSEN, sondern auch INNEN jede Orientierung verloren.“ Duvanel, die unter Medikamenteneinfluss im Park erfroren ist, erscheint als Mensch beinahe einer ihrer Erzählungen entsprungen. Früh fand sie die textliche Perfektion in eigener Form, wie z.B. im herausragenden August, Außenseiter von 1982. Unnachahmlich reiht sich in diesem Band Text an Text, die fast 800 Seiten in Fern von hier in einem Zug zu lesen, wird den außerordentlich dichten Texten Duvanels nicht gerecht, das geht nur in Dosen. (Nicht ganz sattelfest ist ihr außenseiterliches Vokabular. Ihrer Zeit verhaftet, drängen sich N- und Z-Worte erheblich auf, wirken nicht absichtlich gesetzt – aber...)

„[...] Ich kann die fremde Zunge nicht vergessen, an der ich selbstvergessen gelutscht habe. Ich möchte eine Taucherausrüstung kaufen, mit der Harpune eine Krake schießen und sie an einem Felsen weichschlagen. Ich denke plötzlich, dass ich einen Mann brauche, verlasse den Balkon, die Wohnung, das Haus und begebe mich in das Dorf, um mich anzubieten.“

„Eine Zeitlang dachte ich, nicht mehr weiterleben zu können, aber ich trage meinen Rücken immer noch wie einen Sack auf dem Genick, Tag für Tag.“

Duvanel ist eine Sprachkünstlerin ersten Ranges. Dem Limmat Verlag sei gedankt für diesen ersten Gesamtband.

Duvanel Fern von hier: Limmat 2021 978-3039260133 792 Seiten

 

 

Tod auf Raten Louis-Ferdinand Céline

 

Sein Laster war Ampeln Tod auf Raten hieß bislang Tod auf Kredit, was sich weniger erschlossen habe, so Neu-Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel im Nachwort. Das Leben als jeden Tag ein Stückchen Sterben, ist in Célines zweitem Roman, eine semi-fiktionale Biografie, geschildertes wie zwischen allen Zeilen steckendes Programm. In einer Pariser Kindheit voller Niederträchtigkeiten wächst der Protagonist auf, gleichzeitig der Erzähler. Niemand vertraut Ferdinand, gestempelt zum Idioten der Familie. Kein Job, keine Ausbildung gelingt. „Bist du also noch verdorbener, noch heimtückischer, noch widerlicher, als ich dachte, Ferdinand?“, sagt der Vater zu ihm. Er malocht, vagabundiert in Passagen, Läden, auf Märkten, bei einem Schulintermezzo in England, lernt karikaturhafte Damen und Herren kennen – und speit einen einzigen Céline-Schwall Unflätigkeiten gegen alles und jeden aus. Diese Sprache, ohne Syntax, übertrieben, gedehnt, verbogen, verlogen und hassgetränkt, ist die kontroverse Gabe Célines. Einem Sprechkünstler, dem Schmidt-Henkel eine inspiriert-skrupulöse Neuübersetzung schenkt, der als misogyner, antisemitischer Quälgeist in Erinnerung bleibt, der ohne Reue, mehrfach verurteilt fast wie ein Prototyp des heutigen Phänomens Querdenken seine Raten Tod abbezahlte. (Bis heute tauchen unveröffentlichte Manuskriptstapel auf, die noch „viel antisemitischer als gedacht“, den Ruf Célines pflastern.)

Schmidt-Henkels Nachwort beleuchtet den verbrecherischen Teil des Werks, argumentiert aber auch pro Kunstfertigkeit des Ganzen. Gleichwohl ist dies kaum zu trennen. In jedem Werk Célines steckt auch Céline, mehr oder weniger offen. Es ist eine Frage der Lesenden- und Veröffentlichendenverantwortung, was daraus machen, welche Teile und wie zu rezipieren. Das Krakeelen in Tod auf Raten wirkt wie eine Vorbereitung auf alles, was noch kommen würde. Trotzdem gelingt es Céline, ein visionär drastisches Bild von Paris zu zeichnen, das von apokalyptischer Unmöglichkeit aufzusteigen getränkt ist.

„Damit verdienten wir unsere Brötchen, immer noch leichter, als Bahnschienen zu schottern.“ Eine Smogwelt aus Sperma, Dreck, Resten belegt den Stadtraum. Sie reproduziert sich in der Sprache der Beteiligten, ist wie das Weltbild ihres Autoren selten von kurzen Blitzern Helligkeit, Humor oder Wärme gestreift. „Magie herrschte in unserer Butze.“ Die Kapitel des langen Romans rhythmisieren sich wie matschige, besudelte Fotos in einem dunklen Album. Über Ferdinands Vater im Verhältnis zu dessen Schwester, Tante Hélène, heißt es: „Keinerlei Festigkeit gab es an ihr. Alles war Fleisch, Sinnlichkeit, Musik. Vater brauchte nur an sie zu denken, schon musste er kotzen“.

Tod auf Raten ist frisch und zugleich noch immer/ für immer schwierig in der neuen Übersetzung. Ein trauriges illusionsloses Werk Skatophilie voller seltsamer, doch durchdringender Bilder.

„In vorderster Reihe an unseren Fenstern entstand vor den Scheiben eine Art Großmuttergewühle! Ah! das war hübsch! ... Sie klebten an den Fensterläden, wahrscheinlich mindestens fünfzig ... Und quakten lauter als der ganze Rest zusammen ... Sie zogen einander ihre Regenschirme über den Kopf!“

Céline Tod auf Raten: Rowohlt 2021 978 3498009472 816 Seiten

 

 

Berge im Kopf Robert Macfarlane

 

Die Hinabschauer [...] wo Granit herumschwappt wie Haferschleim Robert Macfarlanes Buchdebüt Berge im Kopf stammt aus dem Jahr 2003. Es ist nun als Naturkunden 65 erschienen und bei aller Begeisterung und Schilderungsqualität rund um das Thema Bergsteigen, vielmehr -bezwingen, darf der Einzug der Klimawende als unleugbare Offensichtlichkeit heute nicht gar nicht in solchem Werk auftauchen. Die Gletscher, die Macfarlane samt ihrer Faszinationsgeschichte porträtiert, sie sind nicht mehr. Die Müllhaufen am Mt. Everest, sie sind noch viel größer als der kleine Nebensatz in dem Kapitel. Die Geschichte der britischen (und sonstigen europäischen) Invasion der Welt (nicht nur der Berge) ist nicht nur eine Story von sogenanntem Entdeckergeist, der zwar auch kritisch von Macfarlane ausgeleuchtet wird, es ist die unwiderleglich widerliche Geschichte unendlichen Raubes, gieriger Zerstörung, mutwilligem Radiergummi und rücksichtsloser Expansion von Bessergestellten. Wo immer die Rede ist von Strapazen dieser und jener Expedition, besonders Mallorys drei verhängnisvolle Züge auf den Mount Everest, beschleicht einem beim Lesen ein Gefühl: Das ist nicht die ausschließliche Seite des Eingriffs.

Das zweifelsohne ansehnlich verfasste wie ausgestattete Buch ist Jahre zurück, es fehlt die Auseinandersetzung oder Aufarbeitung jener sogenannten expeditorischen Gesten, sei sie im Sturm, in der Todeszone, in glühender Wüste aus dem Westen. Bezeichnenderweise schreibt Macfarlane, dass Sherpa in ihrem ursprünglichen Vokabular kein Wort für Gipfel haben. Wozu? Es braucht nur „Pass“ oder „Durchgang“ oder „Hang“, oben wohnen göttliche Wesen, unten ist es untersagt, in ihr Reich einzutreten (um was genau eigentlich zu tun?). Das Gegenteil findet in den Köpfen der Westler statt, der Gipfel lässt sie nicht los, muss bezwungen werden, koste es das eigene Leben. Vergleichbar einem Drogenrausch nimmt die gefühlsmäßige Besessenheit ein ums andere Mal den Autor Macfarlane selbst in Beschlag, der es allerdings versteht zwischen phänomenologischer Betrachtung und eigenen Erfahrungen am Berg hin und herzuschwenken, sie zu einer saftigen Collage aus Wissenschaft, Kunst, Verklärung & sportlichem Nervenkitzel zu verweben.

„Was wir einen Berg nennen, ist also in Wirklichkeit das Zusammenspiel der physischen Erscheinungsformen der Welt und der menschlichen Vorstellungskraft – ein Berg in unserem Kopf.“

„Große Höhen ermöglichen eine erweiterte Perspektive: Der Blick von einem Gipfel macht stark. Auf gewisse Weise löscht er einen aber auch aus.“

Geschickt ist Macfarlane im Einsatz von historischem Textmaterial, zum Beispiel das Zitieren Barthes: „So ist das bei Mythen. Wie Roland Barthes zeigt, wirkt der Mythos „ökonomisch“ – er hebt die Komplexität menschlichen Handelns auf, er gibt ihnen die Einfachheit der Essenzen [...] er schafft eine wohltuende Klarheit: Die Dinge scheinen durch sich selbst Bedeutung zu erlangen.“

Berge im Kopf ist für sich betrachtet ein hübsch anschaulich geschlossenes Werk, das heute in Teilen bzw. in seiner Haltung überholt wirkt, bzw. Nachholbedarf hätte – eventuell mit einer aktuellen Benachwortung, so wie John Muirs Yosemite von Mordecai Ogada treffend in seine Zeit (und ihre Fatalitäten) eingeordnet worden ist an ähnlicher Stelle (Naturkunden 71).

Macfarlane Berge im Kopf: Matthes & Seitz Berlin 2021 978-3957575241 318 Seiten

 

 

Pippins Tochters Taschentuch Rosmarie Waldrop

 

Weise Punks Ann Cotten übersetzt Rosmarie Waldrops kunstvollen Roman Pippins Tochters Taschentuch aus den 80er Jahren. Wie Cotten in ihrem Nachwort, das auf eine Nachbemerkung von Ben Lerner folgt (nicht unbedingt nötig, der Roman kann für sich stehen), schreibt, sind Rosmarie und Keith Waldrop für sie Weise Punks, die sowohl ein experimentelles Werk vertreten, als auch anderen Lyriker:innen stets eine Zuflucht zu Hause in Providence und bei ihrem Verlag Burning Deck geboten haben.

Vorliegender Roman der 1935 in Kitzingen geborenen Rosmarie Waldrop ist ein von leichter Hand erzählter Erinnerungsreigen, der mit vielen familiären Verästelungen operiert. Hinzu schleichen sich Wagners Bayreuth („O Wotan, gib mir deinen Odem“), Musikantisches Empfinden, „Hitlerbraun“-Rückblicke auf Nazieindringen, Farbsituationen, Betrachtungen zu Ehe, Sex & Körper sowie Mythisches um das fallengelassene Taschentuch jener Tochter Pippins. Die Lockerheit der Erzählsprache täuscht. Sie kittet hauptsächlich. Denn wie Erinnerung funktioniert, nämlich fraktal, gebrochen, unzuverlässig, bildet Waldrop ab. In kurzen Abschnitten, deren eigenwillige Überschriften zugleich Abschweifungen, Zusammenfassungen, Bruchlinien sind, staut sich ein größer angelegtes Lebenspanorama – munter, manchmal augenzwinkernd, meist clever, oft uneigentlich erzählt.

„Ich erinnere mich an das Gefühl aus späteren Jahren: Die geladene Luft sprach meine Haut an.“

„Nicht einmal in den Wind lehnt er sich, wenn einer ist.“

„Ihre Brust spannte sich mit schwirrendem Summen, und sie verzehrte die Luft, die grünen Hügel von Bayreuth, bis auf den Stein der Häuser, um diesen inneren Kontinent zu füttern, die pulsierenden Flüsse, die die neue Insel umkreisten.“

Neben Komponisten, Familienmitgliedern, Ehen und viel Verlangen auf dieser beiläufigen Romanreise hat auch der legendäre Dichtermythos Wolgamot seinen Auftritt. „Namen sind Rhythmus, sagt John Barton Wolgamot in seinem Buch In Sarah, Mencken, Christ and Beethoven There Were Men an Women.“ Wie um diese These zu untermauern, untersucht Rosmarie Waldrop eine Menge meist deutscher Namen in dem Text, die aus lyrischer Warte zugleich Höhepunkte im Buch sind: Kreisleiter Müller, Laff, Vater Ramberg, Doppler, Professor Acker, die Mumma-Partitur, Graudenz, der alte Porzel, Druckerwerkstatt Kummor, Vaters Knie mit meiner Puppe Ulli ...

Cottens Übersetzung besitzt schönen Fluss, sie bleibt zurückhaltend. Gerade mit ihrer vermeintlichen Glätte erreicht sie Ausmaße, die oft eher komplexer Syntax zugesprochen werden.

Waldrop Pippins Tochters Taschentuch: Suhrkamp 2021 978-3518225189 275 Seiten

 

 

365 vorhergesagte Gedichte Álvaro Seiça Mathias Traxler

 

Der Knochenfauteuil „Unkalkulierte Attraktion von Farben“ lautet eine Textstelle. In etwa exakt so bieten sich die 365 vorhergesagten Gedichte von Alvaro Seiça / Mathias Traxler an. Wer übersetzt hier eigentlich wen? Traxler setzt die gängigen (kanonischen) Tradierungen außer Kraft, indem er zusammen mit dem portugiesischen Lyriker Seiça diesen Text in mehrere Spuren erweitert, verschiedene Sprachen hineinorchestriert. Es ist ein auditives Verfahren, das eher an zeitgenössische additional Tracks auf einem Remix-Pult erinnert. Traxler fügt den Gedichten hinzu, was sich wohl instrumentartig angeboten hat. Er verwischt, klärt auf, findet neue Bezüge. Auf u.a. Bandcamp kann man die auditorischen Impulse nachhören, im Band selbst – in der Kölner Parasitenpresse erschienen – berichtet das Nachwort über die wetter-respektiven Einfallsmethoden Traxlers, die Lyrik Alvaro Seiças umzufusionieren.

„ / die Handtaschen des Raumes fühlen

sich ein / Schmetterling an es war

gut dass keinmal einer vergaß /

den Bügel“

Das Buch ist in endlose wundervolle Abschnitte eingeteilt, deren Genregrenzen fließen wie jede einzelne Zeile selbst. Kaum stellt sich etwas scharf oder überscharf, ist es im nächsten Moment blurred edges oder scheinbar extrem weit hergeholt. Dann wieder sehr einfach. Auch die Zeichensetzung wird stark angepasst bis verfreiheitet. Es ist die sprachliche (und grammatische) Flexibilität von Sprache, die dieses Buch feiert. Er ist weniger verstörend als atemhaft experimentell, gleichzeitig schwierig zu fassen von einem Duo, das etwas vorherzusagen hat. Übersetzung als ein Angebot.

„ // ich habe

Änderungen vorgenommen um neues Land zu

schaffen um Anker zu lichten

 

Mit dem Whiskey verlängert sich die Farbe der herbstlichen

Blätter in die Nacht hinein.

<das geht gut weiter>

Seiça Traxler 365 vorhergesagte Gedichte: parasitenpresse Köln 2021 96 Seiten

 

 

Yosemite John Muir Mordecai Ogada

 

Ja, Sir Amerika Der sogenannte Vater der Nationalparks John Muir war ein naturliebender Mensch, der für nämliche einiges tat und zu Recht als einer der ersten Nature Writer gilt. Sein Buch Yosemite, ein Reisebericht aus dem späten 19. Jahrhundert über das kalifornische Naturwunder ist nun bei Matthes & Seitz herausgekommen. Paradoxerweise als ein entlarvendes Antibuch. Denn wie Mordecai Ogada in seinem aufsehenerregenden Vorwort klarmacht – ein kurzer Text, der vermutlich bald zu den Klassikern der antirassistischen Aufklärung zählen wird – ist Muir nicht nur als Person, sondern ganz besonders in seinem ideellen Werk „Nationalpark“ eine feiste Personifizierung der weißen Reinheitsidee einer Naturrettung vor vordergründig kapitalistisch-ziviler Expansion, die de facto aber einem Raub dieser Natur ihren indigenen Nutzer:innen gleichkommt, die vertrieben, beschimpft und obwohl jahrtausendelang ko-existent, resilient mit den „Naturwundern“, diese doch in den Augen Muirs und anderer „beflecken“ und „verunreinigen“. Ogada macht klar, dass nicht nur Muir und der unfassbare „Teddy“ Roosevelt in Doppelzunge die Natur schützten, damit weiße Vermögende wie sie selbst, exklusiv ohne den Anblick indigener Bewohner:innen an Tieren schießen können, was sie wollen und taten und bis heute tun, sondern eine ganze Institution sogenannter Wissenschaft im Vermessen und Musealisieren es vorzieht, auch letzte lebende Exemplare von Arten zu töten, um sie zu konservieren. Oder wie Joni Mitchell einmal sang: „Cut down all the trees, put them in a tree museum.”

Ogadas flammendes Vorwort ist klar, unmissverständlich und ordnet den folgenden Text Muirs so zutreffend ein, rüttelt derart an den bis heute verehrten Denkmälern dieser Ikonen weißer „Forscher“, dass es verblüfft, wie Muirs Schreiben danach in die Offensichtlichkeits-Falle tappt, den Ogada schlicht „einen destruktiven Menschen“ nennt. „Menschen, die ihrem Konsum Schranken auferlegen müssen, da er weit über ihre Bedürfnisse hinausgeht und in den Bereich mutwilliger Zerstörung hineinreicht. Naturschutz ist ein Begriff, der sich gut verträgt mit Widersprüchen und Doppelzüngigkeit, wie etwa, wenn Wildtiere nicht aufgrund ihres intrinsischen Wertes geschützt werden, sondern um die Begierden derjenigen zu befriedigen, die Herrschaft über diese Wildtiere anstreben“.

Muirs Bericht ist geradezu peinlich. Seine Beschreibung von der Reihe nach Bäumen, Felsen, Blumen, Vögeln ist unterirdische Prosa. Eine Auswahl seiner Kohorte Lieblingsadjektive, die sich wahllos im kolonialisierten Papier tummeln: „erhaben, kühn, prächtig, wild, kolossal, fröhlich, wundervoll, stattlich, entzückend, hervorragend, göttlich, wunderbar“, das ganze jeweils noch oft in Steigerungen. Er scheut nicht vor Sätzen wie: „Schnee, der schließlich schmilzt und fröhlich seine Heimreise zum Ozean antritt“, oder „Bäume, die sich voller Verehrung für die Stürme vor ihnen verbeugen.“

Nach diesen Vermessungen, Bestandsaufnahmen des Valleys, im Grunde genommen grobe, weil konstant überbelichtete Fotos im totalen Affekt einer kleinkarierten Epiphanie geschossen, folgen dennoch einige Kurzporträts von Menschen, die ein wenig an z.B. Thoreaus genauen Strich erinnern, wie die Mini-Story um den Bergsteiger Jack Conway, bei dem auch Muirs Angst vor dem als richtig eingeschätzten Massentourismus aufblitzt oder seine Rekapitulation der Vertreibung der Native Americans (wie von Ogada bereits benannt, als im Inneren gutgeheißen von Muir in besagtem „Reinheitsgefühl“) aus Yosemite, die unter anderem tatsächlich von einem gewissen Major Savage durchgeführt worden ist.

Das Buch ist so verblüffend ambivalent wie die Person Muir selbst. Ohne Muir keine Nationalparks. Durch ihn eine besonders subtile Herrschaftsform weißer Provenienz, die heute mehr denn je aufgeklärt und aufgearbeitet und neu ausgehandelt gehört. Dass ist Mordecai Ogadas Verdienst, dessen Text allein dieses Buch lohnt, da es Muir und seinen Bericht an die Stelle setzt, an die er gehört. Eine kontroverse, interessante und mutige Publikation, die weit über das bisherige Spektrum der Reihe Naturkunden herausragt, indem sie das Buch zur Performance macht.

Muir Ogada Yosemite: Matthes & Seitz Berlin 2021 978-3957578778 255 Seiten

 

 

Ich will doch immer nur kriegen, was ich haben will Franz Dobler Juliane Liebert

 

Räuber Kneißl Kultmensch Franz Dobler hat insgesamt drei Gedichtbände veröffentlicht. Sie sind nicht das Herz seiner literarisch-widerständigen Existenz, diese liegt eher in den Romanen und im Auflegen etc., doch alle drei Bände haben Herz. Insofern, dass man ihnen ihre Unverstelltheit an keiner Stelle absprechen kann. Beim Lesen bekommt man den Eindruck, Dobler spricht/ dichtet direkt selbst, vermutlich würde er sagen: Hier wird noch persönlich gedichtet. Sein lyrisches Ich jedenfalls ist nicht nur wortkarg, es ist patzig und an vielen Stellen ein wenig aus dem zeitgenössischen Takt. Mehr noch, es herrscht eine eher skeptische Haltung der lyrischen Form an sich vor. Als ob sich Dobler als Dichter nicht ganz über den Weg traut, trauen sich seine Gedichte in puncto offenes Sprachspiel nicht viel. Im Gegenteil, sie brauchen Doblers Herz, seine Referenzen (von Country über Kinski bis süddeutsche Regionalia), seine Urteile, Vertappungen, Seufzer. Vor allem brauchen sie vorliegenden Gesamtband: Ich will doch immer nur kriegen was ich haben will versammelt die Bände-Trilogie als gutausgestattetes Hardcover mitsamt aufschlussreichem Interview und verrauschten Fotografien von Juliane Liebert (starfruit publications). Insbesondere das Zusammenspiel mit Lieberts Momentaufnahmen macht im Wechsel mit den Doblerschen Lyrikversuchen einen spannenden Raum auf. Sie reißen sich gegenseitig hoch.

Doblers Verse können bisweilen richtig gut sein, mit wenigen Worten, unter aller Ohr hindurch Dinge überraschend, auch frisch auf den Punkt bringen. Aber die Gedichte schwanken untereinander dermaßen, als wären sie alle zusammen eine Bar, mit unterschiedlichen Pegelständen. Und auch die Beständigkeit in den Einzelgedichten steigt, fällt permanent. Besonders Doblers Hang zu Schlusspointen, sein Unterschätzen der Leser:innen können mitunter daneben gehen, das Ganze zum Einsturz bringen. Er jedoch steht dazu. „Mir ist so langweilig/ meine Schuhe laufen schon/ ohne mich rum.“

Seine Konsequenz zeigt sich im Interview. Franz Dobler schert sich um eine ganze Menge, nur nicht um Ungelebtheiten im Schreiben. Um seine Gedichte auf den Punkt zu bringen: sie sind authentisch – das ohne jeden Verdacht ausgesprochen. Zusammen mit Liebert bilden sie eine unalltägliche Leseerfahrung aus, die weniger in ihren Fails als in ihrer Gesamtheit zu lesen sein sollte. Vielleicht wie eine lyrische Biografie mit Höhen und Tiefen, wie sie einem tingelnden Countrymusician stehen würde, mit denen sich Dobler als Archivar, Konservator und Lebendighalter gern umgibt.

„Jim Beam bläst den Kopf weg

Johnnie Walker macht eine Wampe

Jameson ist Dreck und

Ballantine’s eine Pampe.

 

Jack Daniel’s zersetzt den Magen

Wild Turkey dreht ihn um

Four Roses liegt drin wie ein Klotz

Tullamore Dew ist dünn wie Stroh

Canadian Club kannst du vergessen

und Bushmills hab ich auch gefressen

Glenfiddich ein Angebergesöff

Paddy eine Plörre und

VAT 69 verträgt kein Schwein.

 

Buffalo Trace stinkt

George Dickel ist schlimmer

Fighting Cock viel schlimmer

Cutty Sark was für Anlagebetrüger

Heaven Hill für Messdiener

Rebel Yell Jauchegrube

Black Velvet Damenbinde

Rittenhouse Rye riecht im Abgang.

[...]“

Dobler / Liebert Ich will doch immer nur kriegen was ich haben will: Starfruit 2020 978-3922895398 286 Seiten

 

 

Ästhetik, Marxismus, Ontologie Georg Lukács

 

Was objektiv nicht im Stein steckt Mit Ästhetik, Marxismus, Ontologie, ausgewählten Texten des Ungarn Georg Lukács bei Suhrkamp wagen die Herausgeber Rüdiger Dannemann und Axel Honneth etwas. Denn es gibt wohl wenige Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die sich in den Mühlen der Geschichte so verfangen haben wie Lukács. Er, dessen gleichnamiges Institut mitsamt Statue 2017 aus Budapest verschwand, infolge Säuberungen von wohlbekannter Hand, hätte definitiv nicht verdient, als reiner Ideologe eines bis zum abstrakten Phantasma verehrten Marxismus gestempelt zu sein. Doch auch diese Textauswahl, die von den frühesten Veröffentlichungen vor dem 1. Weltkrieg bis zu seinem Todesjahr 1971 reicht – ohne explizit Hauptwerke einzubeziehen – kann nicht verhehlen, dass dort jemand früh, nämlich nach der russischen Revolution, aus irgendeinem nicht näher bekannten Grund seine Neugier erlöschen ließ und in eine verquaste Sprache aus Resten von Menschinteresse, das noch in den frühesten Schriften zur Ästhetik glüht, und verhungernder Ideologie geriet. Aus einer quirligen Prosa wird übersättigte Hülsenrhetorik in zum Teil blinden Essays. Sprachliche Adjektiv-Exzesse reihen sich bis zum Schluss, auch in den sogenannten spätphasigen ontologischen Texten, auf der Suche nach einem finalen Ethik-Werk, in einer Weise aneinander, die den – im Übrigen reichgeborenen – Lukács zu einem typischen „Erklärbär“ eines längst überfällig vergangenen Akademismus macht, dessen Abenteuer Denken mit dem Eintritt ins Blockleben der Institute beendet war. Dennoch ist besonders das lange Interview aus dem Spiegel von 1970 gegen Ende spannend, hört man dort doch den abseits vom Manuskript parlierenden Haltungshelden, der u.a. Folgendes sagt: „Was man in Deutschland z.B. Redefreiheit nennt, ist nichts weiter als die Routine der Schriftsteller, die genau wissen, in welcher Zeitung sie in welchem Ton schreiben können.“

Selbstverständlich gibt es Höhepunkte, die noch immer sprühen, wie zum Beispiel der kluge Essay über das Grand Hotel „Abgrund“, der sich mit reaktionärer Mystik auseinandersetzt. Wie auch viele gesteigerte Bonmots diesen fast 600 Seiten starken Band durchziehen: „Was aber für die Bourgeoisie nützlich, ist für das Proletariat fast ausnahmslos bedenklich.“ Einen Schlüssel zur Verbindung von Leben und Werk bei Lukács liefert seine Auseinandersetzung mit Literatur, die auch in seiner intellektuellen Karriere den Startwurf hatte. Er schreibt: „eine nicht gewertete Literatur gibt es nicht und das bedeutet, dass es keine Literatur gibt, die nicht mit unseren persönlichsten, innerlichsten Lebensinhalten in stärkerem oder schwächerem, aber unzertrennlichem Zusammenhang steht.“

Lukács Ästhetik, Marxismus, Ontologie: Suhrkamp 2021 978-3518299395 572 Seiten

 

 

Mütze 29 + 30

 

Einen Blick ins Freue Chris Verfuß aus der Hölderlin-Wiese öffnet Mütze 29 mit einer Beschreibung von Moabitis, der ersten vielleicht, wo „unten Eltern, die hupen und weinen.“ Sandra Burkhardt verwebt Hölderlins schwäbische Sprachhabung mit Textfetzen zu einem unterhaltsamen, überraschendem Panorama, das sich türmt und zimmert. Nawas Ali setzt urban hinzu: „Es gibt keinen Turm hier. Das Landesamt für Stadtplanung hat ihn abgerissen und eine Shisha-Bar an seiner Stelle eröffnet.“

Zu Pronomen dichtet Rachel Blau DuPlessis, übersetzt von Stefan Ripplinger:

„[...] eine Art Blutgruppe [...] sich ausbreitend

vermittels einer spektakulären Gruppe

buntscheckiger Komparsen.“

Auch Anmerkungen über „Vogel-Verpuffungen“ gibt es. In ihrem Traumgedicht ist die Hälfte durchgestrichen oder unkenntlich gemacht worden durch tiefes Schwarz, was realistisch scheint: „Allerdings muss die Sprache der Schwärzungen und Streichungen / sehr klar sein. Völlig ausgeglichen.“

Gedichte von Veronica Forrest-Thompson, jungverstorben, hat Norbert Lange mit formaler Präzision übertragen. Ihre Sprache ist in vielen Zeiten sowie Einflüssen verortbar, bis in „die Arme vom trüben Dis“.

„Wir wissen alle Bescheid.

Die Liebe ist die Hölle,

Aus diesem Grund ist Aphrodite auch Persephone,

Herrscherin über Liebe und Tod.

Liebe mordet Menschen und die Polizei kann sie nicht stoppen.“

Lange, freche Gedichte, die ins Wirbeln geraten, dabei die kecken Referenzen auf Prynne & andere abwerfen wie bei einem Reste-Beisammensein mit Salzgebäck. Birgit Kempker startet ein Textglossar. Ihre Einträge mischen persönliche Wissenschaft mit Hülsen und Vorausschau. Aufregendes Gewimmel entsteht: „Warum verwechselst du alles?“

Störung. Du bist nicht die Art von Störung, die sie sich leisten können. Du bist nicht das Testkorn im Getriebe. Du bist zu teuer für dich. Du bist ein Luxus. Ein Licht an sich.“

Mütze 30 führt sowohl Veronica Forrest-Thompson als auch Birgit Kempkers Position fort. „Ich bau mit keinem Kind einen Regensimulator.“ Nun schreiben sich auch Dialoge in den zunehmend giftig-hysterischen Text ein. Aufgeschnappt? Eingeschnappt? „Ich glaube, ich liebe doch die Welt. Okay.“

Ein aufschlussreiches Gespräch zwischen Philippe Sollers und Francis Ponge schließt an, das Thomas Schestag übersetzt hat. Ponge sagt, „für einen Handwerker meiner Art sind Werk und Leben eins.“ Eigentlich ist es ein Monolog Ponges.

Jean Daive und Bernhard Böschenstein sprechen über Paul Celan. Dessen Bindungen zu Hölderlin, Büchner, besonders aber die Rolle des Übersetzenden Celan. „Es muss betont werden, dass, was George und Rilke initiiert haben, Celan fortgesetzt hat, das heißt, diese viel breiteren Perspektiven im Vergleich zu einer rein deutschen Tradition.“ Auch Adorno, Heidegger, Szondi, Kleist und die Golls spielen eine Rolle in der sympathisch respektvollen Konversation, die Herausgeber Urs Engeler selbst übersetzt hat.

Es folgt ein persönliches Schreiben Werner Hamachers Lieber Hans-Jost von 2013, in dem sich Zugänglichkeiten und „Poren“ anbieten. „Wir sind sie; wir, unser Sind. Wir sind unsre wandernde Mitte und geschehen als sie. Und wiederum: die Mitte ist wir und geschieht als uns.“

Im Schlussbeitrag Menschen, keine Geister hatte Christian Filips in der Neuen Nachbarschaft Moabit „neue Nachbarn beim zweiten, [...] bereits neue Freunde beim zehnten Bier.“

„Weitermachen ist Pflicht“ dichtet Luljeta Lleshanaku, der Text macht weiter, er begibt sich nach Albanien. Er erschließt sich psychogeografisch ein Land im Wandel, dessen angenommener Wandel nicht der ist, der sich abspielt. Geister wohnen nicht in vermeintlichen Geisterdörfern, sie sind auch weniger alt denn jung, sind eigentlich einst Vorboten von Aufschwung und Invest gewesen. Zwei nachdenkliche Mützen.

Mütze 29 + 30, herausgegeben von Urs Engeler, Schupfart 2021

 

 

Musik für die Toten und Auferstandenen Valzhyna Mort

 

Fahrstühle steigen auf wie Kotze Die vielfach ausgezeichnete Dichterin Valzhyna Mort legt mit Musik für die Toten und Auferstandenen einen weiteren wohlkomponierten Gedichtband vor. In der starken Übersetzung von Uljana Wolf und Katharina Narbutovič bauen sich weichkantige Trauersänge hintereinander auf, die allesamt, wie es der Titel andeutet, eine Verbindung zwischen Musik und Tod herstellen. Es sticht kein Gedicht heraus, es ist die Gesamtheit einer verwundeten Werkstimme, die interessanterweise zwischen Belarussisch und Englisch pendelt in der Abfassung der Gedichte, die in dem bei Suhrkamp publizierten Band fast durchweg zweisprachig abgedruckt sind, auf ihrem unbeirrten, manches Mal gespenstischen Weg. Mort, im US-amerikanischen Exil, verknüpft die nichtabreißend gewaltsame Geschichte von Belarus im 20. Jahrhundert bis heute mit ihren eigenen Erinnerungsbildern, die eine schwache aber einprägsame Vorstellung des Lebens in Minsk mitten zwischen Inszenierung und gelebter Angst geben.

„Kinder, wir lernten unseren Rhythmus

vom pissegescheckten Schluckauf der Fahrstühle

und vom ramponierten Blinken der Ampeln.“

Was jedoch diesen Band zu einem besonderen macht, beziehungsweise tatsächlich heraussticht, sind die Nachworte/ Essays von Mort, die auf die Gedichte folgen. Hier setzt sich die Autorin mit ihrer Poetologie sowie mit den speziellen Bedingungen ihrer Sprache(n) auseinander. Ihre Einsichten sind klug, auf den Punkt, sie gewähren etwas, das ihre vorhergehenden Gedichte nicht unbedingt können, die – nicht immer – bisweilen ein bisschen formelhaft abstrakt wirken: sie vermitteln eine unverstellte Gefühlserfahrung in dem Material, das Morts Sprachwelt bewohnt. „Es ist wie Vögel beobachten, nur dass man Wörter beobachtet.“ Zusammen, mit den beiden Teilen ergibt sich ein rundes gewichtiges Bild der Dichterinstimme.

Mort Musik für die Toten und Auferstandenen: Suhrkamp 2021 978-3518127667 142 Seiten

 

 

Fälle Daniil Charms

 

Er lebte und lebte, und plötzlich starb er Mit Fälle ist ein Daniil Charms- Meisterwerk erneut aufgelegt worden. In der brillant griffigen Übersetzung von Peter Urban, die alle absichtlichen Stumpfheiten, aber auch alle lyrischen Rhythmisierungen des russischen Avantgardisten gekonnt in ein einzigartiges Idiom bringt, das viel kopiert, aber letztlich nie erreicht worden ist, als bibliophile Ausgabe in der Friedenauer Presse. Charms erzählt von der Pieke auf, als habe es zuvor Literatur überhaupt nicht gegeben. Er erzählt brutal & stets auf eine geometrische Weise von den Fallstricken des Alltags, wie sie vor ihm nicht beleuchtet worden sind. Ohne ins Allegorische abzudriften, fallen ganz konkret Leute aus den Fenstern, vom Bürgersteig, reißen sich gegenseitig Teile aus dem Körper, dialogisieren sich in parodiehaften Theaterszenen die Seele fort [EVA: Oh, sieh mal, wie komisch der Fasan auf der Fasanin reitet“] & geraten, je ernsthafter Stalins Herrschaft fortschreitet zur Entstehungszeit der Texte, in immer düstere experimentelle Zerfleischungen.

„Vorfall in der Straßenbahn

Ljapunov ging zur Straßenbahn, Ljapunov ging zur Straßenbahn. In der Straßenbahn saß Sorokin, in der Straßenbahn saß Sorokin. Sorokin hatte eine elektrische Teemaschine gekauft und fuhr zu seiner Frau nach Hause. Er hatte eine elektrische Teemaschine gekauft und fuhr zu seiner Frau nach Hause.

In der Straßenbahn war es heiß, obwohl Türen und Fenster offenstanden. Sorokin hatte eine elektrische Teemaschine gekauft.“

Dass diese Texte komisch sind, bleibt ein Gerücht. Sie sind so ernst wie Buster Keatons Steinmiene. Sie sind todtraurig, gerade das ist das Komische an ihnen. Die mehrfache Lesbarkeit, die sowohl konkrete wie abstrakte Beschreibung von „Nicht-Passen“ ist das Programm des Daniil Charms, in immer neuen Varianten rasen die bornierten Personen durch Kürzesttexte, die nichts von ihrer Frische verloren haben, auf ihr meist bescheuertes Ende zu, das sie ereilt aus mindestens so abstrusen Verstrickketten wie die Final Destination Saga im Kino. „Die Schlange klatscht vor Vergnügen in die Hände.“

Die gähnenden Menschen, deren Unterkomplexität im Erzählen sie zu großen Modellen ihrer selbst macht, denen ein Kuckuck in den Mund fliegt, während sie gähnen, die Kneifzangen im Gebiss haben, Schraubenzieher etc. sind längst Weltliteratur. Nicht nur umfasst Fälle, die gleichnamige zyklische Sammlung – das Beste vom Besten von Charms –, auch den unvollendeten Roman Die alte Frau, griesgrämig erzählt, sowie eine große chronologische Sammlung Szenen, Dialoge, Skizzen. Charms Einfluss speziell auf heutige Textproduktion kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein schmales Werk ist mit dieser Veröffentlichung fast zur Gänze & in Relevanz festgehalten.

„***

Ein altes Männchen kratzte sich mit beiden Händen. Dort, wo er mit beiden Händen nicht hinkam, kratzte sich der Alte mit einer Hand, aber dafür ganz-ganz flink. Und dabei zwinkerte er flink mit den Augen.“

Charms Fälle: Friedenauer Presse 2021 978-3751806114 367 Seiten

 

 

Was ist ein Name Ana Luísa Amaral

 

Die Katze entzündete sich in der dunklen Nacht Thematisch weitgefasst, sind die philosophischen Gedichte von Ana Luísa Amaral in ihrem Band Was ist ein Name. Oder sind doch Gedichte das Thema der Gedichte? Übersetzt von Michael Kegler & Piero Salabè in der beständigen Reihe der Edition Lyrikkabinett diesen Jahres erschienen, beschäftigen sich die poetischen Gebilde der Portugiesin (und Dickinson-Expertin) zum Beispiel mit dem Bedrohlichen, dem Zudringlichen in einer Handschrift, mit „Geteilter Einsamkeit“, Mikrokomplexen wie „Ich sehe dich im Glas vor mir“, „Das Hotel einer Sprache“, „ins Nichts. Die gebrochene Musik“, dem „genauen Lauf des Flusses“ oder „Gewöhnliche ovale Formen und Freibriefe: oder (fast) noch ein Brief an meine Tochter“.

„Selbst wenn es um Sonne und Berge ginge,

selbst wenn es die winzigsten Räume besingt

oder die großen Wahrheiten,

jedes Gedicht

ist über den,

der darüber schreibt“

schreibt Amaral. Zum Teil inkludieren die Texte merkwürdige, abrupte Abbrüche, als seien sich manche Gedichte selbst nicht geheuer. Manchmal blitzt in ihnen etwas auf, auch durchaus fragwürdig wie die forcierten Ressentiments als Spiel in „Gemeinplätze“. Insgesamt wirken die Gedichte sichtbar prozesshaft. Sie gehen von einem Eisprung im Blick aus, ein Krümel, ein Fuß, die Katze, ein Bild und entfalten sich daraufhin in philosophisches Aufschachteln von Abhängigkeiten. Manchmal landen sie in sich ähnelnden Reichen (Liebe, Nicht-Liebe, Männer, Töchter etc.), bisweilen scheinen sie ganz und gar unkontrolliert-experimentell trotz einer meist immergleichen um Beruhigtheit bemühten (übersetzten) Sprache.

„Meine Tochter hat in der Küche

eine Schüssel zerbrochen.

Und ich, die ich gerne darüber

geschrieben hätte,

musste Inspiration und Stift beiseitelegen,

und nach einem Besen greifen,

die Küche fegen.“

hochpersönliche Eigenreflektionen, Inhalte, die noch über einem gedichtlichen Formwillen stehen in zumindest vorliegender Übersetzung, die zum Teil a-rhythmisch agiert, oder wie es im Nachtwort selbst gebeichtet wird: „oft ist es eine Herausforderung, in den akrobatisch konstruierten Sätzen und Bilderreihungen dem Gedankengang zu folgen“. Die Akrobatik allerdings bleibt eine Behauptung, denn zumindest im Deutschen wird eher auf Nummer sicher gegangen. Ein wenig übersetzerischer Mut hätte nicht geschadet in Richtung negative capability oder Dickinsonsche Drastik.

Amaral Was ist ein Name: Hanser 2021 978-3446269125 112 Seiten

 

 

Lass mich nicht einsam sein Claudia Rankine

 

Anwesenheit anzeigen Claudia Rankines Lass mich nicht einsam sein ist ein deprimierender Text. Seine Zusammensetzung aus lyrischer Essayizität über trauriges Zeitgeschehen zwischen nine-eleven & den Jahren danach, eingestreuten Momentaufnahmen über das Sterben, Abschalten der Kabel, Abhängigsein von Medikation, dem allgegenwärtigen Fernsehen, den Nachrichten über Verbrechen, Misshandlungen, zivilen rassistischen Terror, lässt ihn unmittelbar, nahbar zu einem separat eingefangenen Stück Realität werden. Eine trostlose Gesellschaft, auseinandergebrochen, nur mit Bildern am Leben erhalten – ein Leben, das sich in Wirklichkeit als Einsamkeit an sich anfühlt. Rankine schafft es, dieses Gefühl zu erzeugen, unaufdringlich, schmucklos, von Uda Strätling clean übersetzt, geradezu beklemmend. Besonders heute, zehn Jahre später, möchte man hinzufügen, da es sich mitnichten zu einem (imaginären) Besseren gewandelt hätte, dass Rankines Kritik am System W. im Maßstab des Realitätsausmaßes vom späteren System DJT gesehen, zum Heulen ist & umso mehr runterzieht.

Dem bei Spector Books in der Volte-Reihe erschienenen Buch vorangestellt, liest sich ein Motto von Aimé Césaire, „[...] Ein Mensch, der tanzt, ist kein Tanzbär.“ In jener Vercuttungstechnik von Fetzen, Fotos, häufig eingespielten Grafiken leerer Fernseher (letzterer fast zu viel, nicht unbedingt vonnöten), tummeln sich Lyriken, Zitate, Filmnotate, Reflexionen wie Inseln, bewohnt mit demselben Gefühl, die Rankine versucht zu erreichen, die aber doch weit scheinen, schwierig zu navigieren. So wie jenes verdammte Einsamsein, das einmal da, schwer loszuwerden im Gefühlshaushalt herumsitzt. Celan, Vallejo u.a. kommen zu Wort in einem Werk, dass Literatur und Realität verschmilzt, sie ununterscheidbar macht. „Habe ich jemals Liebe erbrochen oder Schuld gehustet?“ schreibt Rankine.

„Ich soll Einsamkeit definieren?

Ja.

Sie ist das, was wir nicht füreinander tun können.

Was bedeuten wir einander?

Was bedeutet ein Leben?

Wozu sind wir da, wenn nicht füreinander?“

In einem dem Text nachgestellten, sehr interessanten Glossar wird mit einem Stimmungswechsel in der Sprache über die Realia gesprochen, sie zugeordnet, noch nüchterner, außerhalb des lyrischen Flows mit ihnen operiert. Ein leicht verzogenes Spiegelbild des ersten (Haupt-) Teils. Zusammen ergibt sich ein intensiver, grenzensprengender Lyrikessay, der so persönlich gehalten ist, dass er paradoxerweise allgemein wird – human, wenn dieses Wort überhaupt noch wohlbelegt ist. Dieses Buch ist es, ein weiterer tiefbohrender Klassiker aus der Feder Claudia Rankines.

„Oder ich erinnere mich, dass die letzten beiden Zeilen in Fanny Howes Tis of Thee, die ich am Abend zuvor noch im Bett gelesen habe, lauten: „Ich lernte, einem Gefühl der Unabhängigkeit sukzessiv zu entsagen und fühlte mich schließlich von unserer heutigen Zeit geschlagen. Ihr ergeben.“

Rankine Lass mich nicht einsam sein: Spector Books 2021 978-3959053303 168 Seiten

 

 

Rückruf Marie T. Martin

 

Käferin „Mahlwerk dieser Stadt“, „Wutkraut“ lauten Wortschöpfungen von Marie T. Martin in ihrem neuen Lyrikband Rückruf, erschienen im Leipziger Poetenladen Verlag. Im Nachwort nennt Tom Schulz ihre Texte „zugewandt“ und einem „magischen Sprachrealismus“ zugehörig. Tatsächlich ist das Zugewandte treffend, denn Martin nimmt die Lesenden mit auf Gänge in (Natur) Räumen, auf Erkundungen, die unverkopft daherkommen, diese Leserschaft wirklich mitgehen lassen. Das führt aber auch mit sich, dass bisweilen das Experiment fehlt, die Offenheit aufs Ganze zu gehen und dabei ein mögliches, realistisches Scheitern zu riskieren. In Rückruf sind die textlichen Operationen tatsächlich weniger als nach vorn einzuordnen, sondern als wohlüberlegt, ökonomisch, handwerklich äußerst gekonnt ins Bekannte gegriffen zu verstehen. „Dort liegt sie, ungesehen, die seltenste / aller Farben.“

Mehrfach benennt Martin die „Treidelseele“, „die Zweifelrede“, die an diesen Stellen durch Markierung zustande kommen soll, nicht aber durch Agieren von Sprache selbst (es sei denn im Fragen). Das Markieren wird vielmehr von einem klar zuordnenbaren Lyrischen Ich vorgenommen („Käferin“), oder einem Lyrischen Du, die jeweils sehr präsent, prägnant alle Gedichte durchdringen: „Liebes Ich Wie geht es Dir? Mir geht / es gut, ich sammle Fallsamen“ oder „Rückruf, dein Ich spricht“. Bisweilen treten sie in einen Dialog, sprechen sich an, „dass du eine Täuschung bist oder ein / seltsamer Traum“. Durch die verschiedenen Abteilungen des Bandes ziehen sich zwar viele Fragen wie „Ist dies eine /  Überquerung?“, doch strahlen alle Texte eine insgesamte Zuversicht aus. Zweifeln ja, aber Verzweifeln nein. Ein Ritus? „Vater und ich gehen in einem Western spazieren“, eine Rahmung oder letzte Folie bleibt stets vorhanden in den Gedichten in Rückruf von Marie T. Martin.

Martin Rückruf: Poetenladen 2020 978-3948305086 96 Seiten

 

 

Einmal in Sizilien Leonardo Sciascia

 

Regalpetra Der sizilianische Autor Leonardo Sciascia schreibt ausgiebig über die Welt um ihn herum, Sizilien, die Schule – er war Lehrer –, Menschen unter wechselnder Herrschaft, das Wetter, die Arbeiterbewegungen, die Verbindungen zur Unterwelt. In der Wagenbach-Reihe SALTO, die häufig ins Gebiet von Reiseliteratur vordringt, erscheint Sciascias Prosaband Einmal in Sizilien, der von Sigrid Vagt übersetzt wurde und bereits fast 70 Jahre alt ist, Le Parrocchie di Regalpetra im Original von 1956. Die um Objektivität bemühten Reportagen kreisen um das fiktive sizilianische Städtchen Regalpetra, das allerdings einige Ähnlichkeit zu nicht-fiktiven sizilianischen Städtchen aufweist. Sciascia versucht die damaligen Verwerfungen der Gesellschaft zwischen einer archaischen Landkultur mit eigenen Regeln, einem jungen Staat nach dem Faschismus um den Aufbruch bemüht und uralten ungerechten Eigentumsverteilungen sichtbar zu machen. Wie es heute um Sizilien steht, steht auf einem anderen Blatt, doch laut Einmal in Sizilien gab es einst eine große Ur-Solidaritätsbewegung der Nichtbesitzenden auf der Insel, gleich ob sie Schäfer, Schwefelminer oder Salzarbeiter waren, deren Kinder sich das Essen in der „Schulspeisung“ „ergaunern“ mussten, die zusammen absurde Entscheidungen von fern aus Rom aushielten, die sich selbst allerdings politisch wiederum unterschiedlich sozialisiert haben: die einen christlich-demokratisch, die anderen noch dem Fascismo nahe stehend, die anderen inzwischen Kommunisten, nicht unbedingt mehrheitseindeutig.

„Ein hautfarbenes Fähnchen flattert über dem Marsch der Armen“, so beschreibt es Sciascia trocken. Ohne viel auszustellen, geht der Autor weniger einer Inselromantik hinterher als einem Stück sizilianischer Geschichte, mit vielen Verweisen auf die überregionale Periode des jungen 20. Jahrhunderts in Italien. Die bittere Seite der Korruption, die in seinen später expliziteren Mafiaromanen die Hauptrolle spielt, ist hier noch unausgeprägt. Stattdessen laufen die Texte in ironische Beobachtungen aus.

„Zum Teufel“, erwiderte der andere, „Sie wollen mich nicht verstehen. Man hat ihnen die Schafe gestohlen? Wie viel waren sie wert, hunderttausend, zweihunderttausend? Dann gehen Sie zu Gaspare, und sage Sie ihm, Sie wären bereit, fünfundzwanzig-, fünfzigtausend zu zahlen; und Sie werden sehen, Sie kriegen die Schafe wieder.“ „Aber Gaspare ist doch unser Bürgermeister“, sagt fassungslos der Anwalt. „Ich weiß“, entgegnet abschließend der andere, „aber als Bürgermeister kann er diese Dinge besser regeln. Ein Freund der Freunde ist er, Sie sollten sich gut mit ihm stellen.“

Sciascia Einmal in Sizilien: Wagenbach 2021 978-3803113603 144 Seiten

 

 

Wabi-Sabi Woher? Wohin? Leonard Koren

 

Rau und ungleichmäßig Leonard Koren hat seine Gedanken zu Wabi-Sabi neu spezifiziert. Er kehrt zurück, erweitert sie um einige zusätzliche Informationen im Band Wabi-Sabi Woher? Wohin? Weiterführende Gedanken. Das epochale Konzept aus Japan, das nur durch den (westlichen) Versuch Korens überhaupt in Worte gefasst worden ist, bescheiden und ums allgegenwärtige Scheitern desselben im Klaren, eine Ästhetik des modesten Denkens und Verhaltens als (Kultur-) Gäste dieser Erde zu skizzieren, funktioniert auch im zweiten schmalen Buch im Wasmuth Verlag, neu aufgelegt, hauptsächlich über das Verbalisieren dessen, was Wabi-Sabi nicht ist. Koren stellt lieber Fragen („Wenn Sie in eine Welt hineingeboren worden wären, in der es die weggelassenen Zutaten gar nicht gäbe, würde es sie dann stören?“), statt Antworten zu geben. Er argumentiert mit dem Bild einer gesprungenen Kanne oder dem Zeitabdruck auf einer Bank. Es gelingt ihm dabei, inspirierend und uneitel zu bleiben.

Wenig wird erklärt, eher aufgezählt, verglichen, gesetzt. „Oder man nutzte Dinge aus einem ganz anderen Kontext, die nun neue Funktionen übernahmen und symbolische Assoziationen weckten [...] deshalb stellte man alte Dinge neben neue. Ausländische neben einheimische. Glatte neben raue. Teure neben preiswerte. Berühmte neben unbekannte. Das Komplizierte neben das Simple ...“

Zur Buchgestalt, die ihr eigenes Medium ist, erklärt der Autor: „... und es erhielt einen seltsamen, keinen cleveren Titel.“ Das Buch selbst ist Wabi-Sabi. Wer durch Lesen eine derartige Erfahrung machen möchte, wird sie machen. Das letzte Wort in Korens erstem Band lautete entdecken, hier nun lautet das letzte Wort ausradiert. Ein Hauch von Wink.

Koren Wabi-Sabi Woher? Wohin?: Wasmuth & Zohlen 2020 978-3803032188 96 Seiten

 

 

Undienlichkeit Iris Därmann

 

Fliegen: Sich selbst undienlich machen, nicht mehr zur Verfügung stehen, sich außer Gefecht setzen – unter dem Titel Undienlichkeit betrachtet die Kulturwissenschaftlerin und Philosophin Iris Därmann die Geschichte eines Widerstandsmodus gegen die Ausübung kolonial- und vernichtungspolitischer Gewalt, sowie ihrer philosophischen Rechtfertigungen. Als bisher unverbunden stand, dass die Sklaverei nicht nur eine Haupthandels- und Produktionspraxis westlicher Gesellschaften über Jahrhunderte war, sondern ganz offensichtlich auch ein kritikloser Teil ihrer theoretischen Philosophien gewesen ist. Nicht bloß Aristoteles, sondern in besonderem Maße die Späthumanisten und Frühaufklärer wie Hume, Locke, Hobbes usf. verankerten das Recht des Westens am Menschenmaterial als wesentlichen Teil ihrer Staatsphilosophie. Locke zum Beispiel erklärte den „christlichen Schöpfergott zum höchsten Land- und Sklaveneigentümer“. Zu Hobbes konstatiert Därmann: „Zweifellos ist H. nicht nur der Begründer des juristischen Idioms der Souveränität und des Staatsterrors, sondern gerade auch der Erfinder des politisch „servilen Menschen“, des sich absolut unterwerfenden und befehlsbereiten Subjektes.“

Därmann geht in ihrem fundiert recherchierten und aus vielerlei Stimmen von Originaldokumenten zusammengesetzten Schwarzbuch der Frage nach, wieso u.a. auch Marx/ Engels in ihrer Analyse von Ausbeutung und Gewinnaufteilung der Welt praktisch nie woke über die Rolle der Sklaverei nachdenken, bzw. offenkundige historische Ereignisse des erfolgten Widerstands wie beispielsweise die haitianische Revolution vollkommen tilgen zugunsten eines noch ausstehenden erlösenden Revolutionsplanspiels von unten. Als zentrales Konzept der Undienlichkeit macht Därmann die quälend zu lesenden Methoden bewusster Materialsabotage an sich selbst der verschleppten Menschen aus: Suizide, Verstümmelungen, alle Arten des Fliegens genannten Rückführens ihrer unversehrten Seele aus den willkürlichen Händen der ausübenden Gewalt, die, nicht selten sexualisiert, wiederum ihren Rückeinschlag über de Sades u.a. Schriften ins sensuelle Körpernarrativ des Westens gefunden habe. Das nüchterne Schildern des Undienlichmachens auf der einen Seite und des absichtlichen Gegen-Ausübens von Herrschaft durch Gewalt über den Körper (Lynchen, öffentliches Strafen, Verstümmeln, Verbrennen...) bildet die Trauma-Achse dieses Handbuchs der Gewaltgeschichte, die konsequenterweise in der Verstrickung der politischen Philosophien Schmitts und Heideggers in die industrielle Vernichtung des Judentums im 20. Jahrhunderts gipfelt. Dabei stehen die Zitataussagen Heideggers aus den Schwarzen Heften, die nicht nur den Nationalsozialismus als „brutale Überwindung der Metaphysik“ preisen wie den Messias selbst, sondern ganz explizit die „jüdische Vernichtung“ als dafür unumgänglich einfordern, als entsetzliche Kulmination einer alternativen (politischen) Philosophiegeschichte, an deren abschließender Betrachtung Därmanns, Heidegger & Co könnten heute nurmehr von historischem Betrachtungsinteresse sein, ihre philosophischen Modelle basierten auf verbrecherischem Sozialverstehen, nach dieser Leküre wohl wenig Zweifel bestehen dürften. Undienlichkeit betreibt notwendige schonungslose Aufklärung. Matthes & Seitz Berlin hat ein ebenso mutiges wie wissenschaftlich aufbereitetes (über 200 Seiten Quellenangaben/ Anmerkungsapparat) Schriftwerk des Grauens veröffentlicht, von umstürzlerischer Sichtweise auf lange unbeschadet und unangetastet gestandene Gedankengebäude.

Därmann Undienlichkeit: Matthes & Seitz Berlin 2020 978-3957578747 510 Seiten

 

 

Die Affen Gottes Wyndham Lewis

 

Ganz lustig, nicht wahr? Mit Wyndham Lewis Monumental-Roman Die Affen Gottes liegt ein kontroverses Zeugnis der Moderne erstmalig in deutscher Übersetzung (Jochen Beyse, Rita Seuß) vor. Lewis brachte sein satirisch angelegtes Panorama der Londoner Kunstszene ursprünglich 1930 heraus, erntete geteiltes Echo und wandte sich in Abkehr und letztlich Unverstandenheit offen dem Faschismus zu, dem er trotz gelegentlicher „Volten“ (wie es auf dem Buchumschlag heißt) treu blieb. Ezra Pound galt als Bewunderer der Affen Gottes. Spätestens hier sollte Hellhörigkeit einsetzen. Der bei Diaphanes erschienene, ansprechend aufgemachte Wälzer besitzt zwar ein umfangreiches Nachwort nebst Register, nimmt darin aber wenig ausreichend Stellung zum machwerkartigen Charakter dieser späten Ulysses-Trittbrettfahrt. Tonal anders gelagert als das Joycesche Universum oder das zeitgleich entstehende Werk Virgina Woolfs (die beide von Lewis‘ reaktionärer Schelte aufs Korn genommen werden) und erst recht anders als Foster Wallace‘ später Unendlicher Spaß, sind Die Affen Gottes kein bisschen progressiv-monströs, sondern im tiefsten Licht menschenverachtend feindselig. Es wimmelt in dem konzeptlos aneinandergereihten Panoptikum damaliger MäzenInnen, Parvenüs, BlenderInnen von (Empire-) sprachlichen Aussetzern: rassistische, anti-semitische, sexistische, homophobe Lingo, die nicht ausschließlich den Figuren in den Mund gelegt wird, sondern ganz explizit der neutralen Erzählstimme entgleist. Das Buch ist zu großen Teilen ein veritables Hate-Fest von Zuschreibungen und gift-begrifflichen Bezeichnungen, deren traurige Aktualität allen NachwortschreiberInnen (hier: Paul Edwards) ein höheres Anliegen hätten sein müssen zu kennzeichnen, als Lewis‘ florierende Kreativität in den Vordergrund zu stellen – welche im Übrigen ihrer Zeit zu spät gekommen ist und auch nicht über sie hinaus zu bedeuten gewillt ist. Eine kritischere Ausgabe wäre notwendig, um die totale Toxizität dieses männlich-selbstmitleidigen Missverstehens und Ausübens von Sprachkunst als Neuausgabe zu rechtfertigen.

Lewis (1882-1957) gehörte als Bildender Künstler vor dem Ersten Weltkrieg zur Avantgarde (Vortizismus, BLAST), doch fällt er mit diesem traurigen Pseudo-Epos (wie Pound und andere) in seine selbstverfertigte Grube. Auch der Integrität von Satire muss getraut werden können. Wer solch Format lediglich nutzt, um einmal richtig abledern zu können, verrät nicht nur die Kunst, sondern die Gemeinschaft dazu. Die Affen Gottes disqualifiziert sich für praktisch jede Lektüre, zu wütend macht der weithin langatmig und selbstgerecht verfasste Rundumschlag: „... sie gertrudesteinerten vor sich hin“. Einzig Wyndham Lewis‘ Zeichnungen, die als Originale zwischen den Kapiteln abgedruckt sind, leuchten noch als veritabel mehrdeutige künstlerische Aussagen. Sie schlagen die Brücke zu einem Künstler, der etwas zu sagen hatte, bevor er nichts mehr zu sagen hatte und anti-proportional lauter wurde.

Lewis Die Affen Gottes: Diaphanes 2020 978-3035803464 776 Seiten

 

Besprechungen erscheint unregelmäßig bei Jonis Hartmann